Selber Schuld. Ich hatte mich entschieden. Aus irgendeinem Grund hatte ich mich entschieden mit dem Laufen anzufangen. In meinem Kopf schwimmen wirre Fetzen von „Kopfschmerzen durch Nackenverkrampfung“ und „Abnehmen“ und „Streßabbau“ umher. Als Grund für die ersten Schritte, die ich auf dem naßglänzenden Asphalt anfangs freudig, gen Ende hin schnaufend getan hatte. Der Anfang von etwas wird gerne im Nachhinein verschrien. Man hätte es doch wissen können, man hätte doch kurz innehalten sollten, man hätte. Hat man aber nicht, weil man damals nicht so klug war wie man es jetzt nun einmal ist. Nichts, was man jetzt sagt, denkt, tut, abwehrt und abschüttelt kann das ändern, was schon längst passiert ist. Die ersten Schritte auf dem naßglänzenden Asphalt. Ich hatte mich entschieden.
Selber Schuld. Ich bin ja doch nur ein Mensch. Und jeder Mensch sucht. Sein Leben besteht aus Suchen, seltener aus dem Finden, das man sich so sehr herbei sehnt. Der Mensch, der ist von Geburt an nicht ganz. Deswegen sucht er. Wie soll er denn auch ganz sein, wenn das ganze Leben noch vor ihm ist? All die Erfahrungen, all die Orte und Menschen, all die Gerüche, Geräusche und Geschmäcker, all die Tränen, Küsse, Berührungen, Liebe. All das wartet auf ihn. Und der Mensch, der nicht weiß, dass all das auf ihn zukommt, unwissend, dass ein gelebtes Leben aus nichts anderem als dem eben genannten besteht, dieser kleine Mensch macht sich auf die Suche. Was ist das? Wie schmeckt das? Lebe ich so richtig? Wo sind meine Grenzen? Was tut weh? Weshalb mache ich so dumme Fehler? Wie bekomme ich dieses eine Gefühl? Wie funktioniert denn Leben? Ohne Bedienungsanleitung sind wir ins Leben geworfen. Und diese Bedienungsanleitung, die so unglaublich kompliziert zu sein scheint, die suchen wir. Und manchmal finden wir etwas, bleiben hängen oder entscheiden uns. Weil es dann passt.
Selber Schuld. Kein Mensch ist gemacht um nicht zu leben. Kein Mensch hält Gitter sein Leben lang aus und kein Mensch kann es Leben nennen, wenn er nicht nach etwas sucht. Zwar suchen alle Menschen am Anfang das Gleiche, aber Menschen sind unterschiedlich. Sehr unterschiedlich, was das Miteinander auch so spannend und vielfältig macht. So suchen die einen und finden Alkohol, die anderen entdecken das Schnitzen für sich. Der eine entdeckt die Fotografie und fühlt sich erfüllt, die andere findet in Zigaretten einen Stengel im ihr trostlos erscheinenden See des Lebens. Der Mensch sucht. Sucht. Er kann nicht ohne, hat er was gefunden, das seine Suche für ihn beendet. Bei negativen Dingen spricht man abfällig von einer Sucht, verständlich zumal diese Sucht tödlich ist. Andererseits sind auch Fallschirmsprung-Liebhaber eher lebensgefährlich unterwegs. Was ist die Linie, zwischen einer pathologischen Sucht und einer lapidar dahingesagten Sucht? Eventuell, dass eine pathologische Sucht einen hindern kann voll zu leben. Man könnte sie auch als Falle beschreiben, da sie etwas vorgaukeln, was nicht ist. Weil sie einem vorschreiben, wie man zu leben hat. Weil sie einem auch die Gesundheit oder Kraft oder Klarheit rauben können, das Leben so zu sehen wie es ist. Und es voll auszuleben. Weil sie, und das mag ein klares negatives Suchtzeichen darstellen, körperliche Entzugserscheinungen auslösen, wenn man dieser Sucht nicht nachgibt. Nachgeben will, kann oder darf. Und schon verformt sich diese Sucht in die genannten Gitterstäbe, die einem Menschen das rauben, was das Leben zum großen Teil ausmacht: Freiheit.
Selber Schuld. Freiheit – was ist das. Frei sein? Frei fühlen? Frei denken? Frei entscheiden? Wir hier sind frei – freier als so mancher Mensch auf dieser Welt. Und dennoch fühlen wir uns eingesperrt. So sehr wie Armut Freiheit nehmen kann, kann Wohlstand sie ebenfalls rauben. Verpflichtungen. Ein magisches Wort, das Bauchschmerzen verursachen kann. Kredite, Finanzen, Versicherung, Sparvermögen, Verträge, Planung, Zukunft, Wohlstand, Statussymbol, gesellschaftliche Anerkennung. Es gibt vieles, das viele Menschen in viele Ecken drängt. Man lässt sich aber auch drängen – warum denn nicht? In diese gedrängte Welt wird man hinein geboren, man kennt sie und akzeptiert sie. Aber trotzdem hat man das Bedürfnis nach Freiheit. Man möchte etwas sehen, etwas erleben, mehr leben. Dieser Drang frei zu sein resultiert in anderen Süchten: Reisen, Fotografie, Filme, Serien, Internet oder Bücher. Sei es in Echt oder auf dem Bildschirm oder in tanzenden Buchstaben auf Papier. Man möchte frei sein und wenn man dies nur über die eigene Vorstellungskraft ermöglichen kann. Warum nicht? Solang das Herz schneller schlägt, die Lippen sich zu einem Lächeln verformen, die Augen vor Bewegtheit naß werden, einzigartige Momente sich für immer einbrennen – ist das nicht auch Freiheit?
Ich bin selber schuld. Freiheit und sich lebendig fühlen liegen so nah beieinander. Fast ineinander. Wenn ich mich lebendig fühle, bin ich dann nicht frei? Frei zu allem, weil ich voll und ganz und total in dem Moment da bin. Klar, auf beiden Beinen stehend, mit voller Zuversicht und Freude im Bauch. Das war wohl der Grund, warum ich die ersten Schritte auf dem naßglänzenden Asphalt getan habe. Natürlich, irgendein anderer Grund war auch vorhanden. Aber war das nicht eher Vorwand von mir selbst mich zu trauen? Mir selbst innerlich zu sagen „Ich möchte mich lebendig fühlen. Ich möchte spüren, das ich leben und wozu ich fähig bin.“ und deswegen bei Regen, Sturm, Schnee, Sonne, Tag und Nacht mich und meinen Körper in die nach Lebendigkeit duftende Welt zu katapultieren?
Ist es nicht wegen die Zeit nach dem Laufen, das mich meiner Glückseligkeit, meine Lebendigkeit fast zum Greifen nahe bringt, dass ich vollkommen und komplett bewusst mich der Sucht des Laufens geopftert habe? Ist es nicht wegen der Freiheit, die ein von der Sonne gesprenkelter Waldboden, der nach Kiefern und Erde duftet, für mich ausstrahlt, dass ich nur zu bereitwillig meine Zeit dem Laufen schenke?
Vielleicht liegt es auch einfach nur an der Ruhe, die von mir Besitz ergreift, an der Ordnung, die im Kopf dann herrscht, an der Schlichtheit des Laufens, an der Klarheit meiner Umgebung, an den ausgetragenen Kämpfen mit mir selbst, dass ich gerne zugebe: Ja, ich bin süchtig nach Laufen. Und ich möchte das niemals missen in meinem Leben. Und ich merke, wie diese eine Sucht mich in eine Richtung gebracht hat, in der noch viele weitere Dinge auf mich warten – die ich alle gesucht habe. Nicht nur Dinge sondern auch Menschen und dafür bin ich besonders dankbar. Ich bin also gerne süchtig, sollen die anderen nur reden, ich geh derweil über Wiesen und Felder und Wälder laufen.
Toller Text. Zur Freiheit gehört meiner Meinung nach beim Laufen auch, dass man praktisch keine Ausrüstung braucht: ein paar Schuhe (manche nicht mal die), eine Hose und ein T-Shirt/Pullover. Fertig. Zwar kann man auch beim Laufen so viel Materialschlacht daraus machen, wie man möchte, muss Mann/Frau aber nicht. Hauptsache: Keep on Running!