Manchmal gibt es Phasen im Leben, die man liebt. In denen man aufgeht, wächst, glücklich und voller Zuversicht jeden Moment dieser Phase auskostet. Man schwebt über den Dingen oder zumindest, weiß, um welche Dinge es sich dreht. Das Training funktioniert, der Trainingsplan ist nicht nur eine Idee sondern eine tatsächliche Aktion, die jeden Tag ausgeübt wird. Der Körper ist gesund, die Arbeit erfüllt, die Freunde lachen – also das ganze Bilderbuchgeschiss eben. Das, was man in Hochglanzmagazinen liest. Das, was man auf den Sozialen Netzwerken sieht. Das, was es wert ist zu erzählen, um höher, schneller, weiter zu kommen. Das, was einen stolz die Brust schwellen lässt in Angesicht der Leistungsgesellschaft, in der wir uns nun einmal befinden. Das, was als „Richtig“ definiert ist, als „Gut“, „Stark“ und sonst irgendwie positiv behaftet sein mag. Wir haben eine Position inne genommen, die uns so präsentiert, wie wir – seien wir ehrlich – nun auch gerne sein möchten. Aber das Leben ist nun einmal das Leben und reißt einem gerne mal den Allerwertesten auf.
Phasen die man liebt, liebt man, weil es leicht ist. Einfach. Positiv. Bestätigend. Schön. Phasen, die man nicht so wirklich gern hat, sind oftmals das Gegenteil. Aber sie sind nur deswegen das Gegenteil, weil wir sie in einen starken Vergleich – eventuell unseren einzigen – mit den guten Phasen setzen. Die mit einem verständnisvollen Nicken untermalte Achterbahn des Lebens. Wer aber im Sport aktiv ist, läuft, Berge erklimmt, Kilometer auf dem Sattel sammelt oder „sich selbst findet“ bei etwaigen Yogaposen, der erlebt die Achterbahn anders. Und ich wage zu behaupten, dass man diese Achterbahn tragischer sieht. Schlimmer, dunkler, fieser, beschissener.
Die Erklärung, die liegt bei allen Verletzten auf dem Tisch: man kann nicht mehr das tun, was einem gut tut. Klar, die Frage was war denn zuerst da, das Ei oder das Huhn, könnte man auch behandeln. Aber da ich eine starke Vertreterin des natürlichen Auf und Abs des Lebens bin, werde ich die Frage einfach mal ignorieren. Weil ich’s kann und weil ich sonst Hunger auf Omelett bekomme. Oder Hühnchen a la Toscana.
Wer Sport macht, der macht es oft aus einem Grund. Allerdings gibt es nicht den einen wahren Grund, anders als es den einen wahren Rotwein gibt. Manche fangen mit Sport an, weil sie ihre Figur retten/ändern/verschönern/verstärken wollen. Manche müssen mit Sport anfangen, weil sie sonst unter Schmerzen leiden. Manch andere, und dazu zähle ich recht viele, machen Sport, um das persönliche Stresslevel zu senken, um Abstand zu gewinnen, um sich lebendig zu fühlen. Wir könnten jetzt eine Art Berechnung aufstellen, wieviele der Gründe simultan auftreten können, aber ich fasse jetzt einfach mal zusammen: wer Sport macht, der macht es, weil es ihm/ihn in irgendeiner Art und Weise gut tut. Weil es die Gedanken katalysiert, weil es ein Lächeln ins Gesicht zaubert, weil es einen den Körper spüren lässt, weil danach das Nutella-Crêpes irgendwie besser schmeckt, weil man lebt um die Welt zu sehen und zu spüren.
Ich laufe gerade nicht. Es passt nicht, aber so garnicht in meine aktuelle Phase hinein. Ich weiß, dass es mir verdammt noch einmal gut tut. Ich weiß vieles, das mir gut tut. Gut tun könnte, würde. Aber manchmal ist es im Leben eben so, dass man nicht alles schafft. Nicht alles kann, was man könnte. Und erst recht nicht alles soll, was möglich ist. Jetzt wird ein Jemand sagen „Aber es würde dir doch gut tun!“ und ich würde nicken. Dem Raucher würde es gut tun, mit dem Rauche aufzuhören. Dem unglücklich Verheirateten würde es gut tun, weniger Alkohol in sich hinein zu kippen. Dem Übergewichtigen würde es gut tun, die Kalorien zu minimieren und spazieren zu gehen. Und da taucht auch langsam aber sicher das wahre Problem auf: Man muss etwas wollen.
„Nun ja, ich will schon gern mal so Millionär sein…“ könnte jetzt jemand über die Kaffeetasse mir entgegen nuscheln. Vages Schulterzucken. Nippen des Kaffees. Trüber Blick auf den Regen verhangenen Himmel. Ist das „Wollen“? Nein. Das ist „Ich würd’s ja schon nehmen, wenn es da wäre, aber dafür was zu tun… och, ist doch noch so früh.“ und das wird nie mit einem Ziel belohnt. Ich würd ja schon gerne abnehmen, aber ich hab doch grad die Familienpackung Tiramisu gekauft, die kann ich ja nicht schlecht werden lassen. Ich würd ja schon gerne mit dem Rauchen aufhören, aber dann nehme ich ja zu und außerdem dauert es so lange, bis meine Lungen sich erholen. Ich würde ja schon gerne irgendwie weniger trinken, aber dann wäre ich zu oft mit der Beschissenheit meines Lebens konfrontiert ohne Filter, da müsste ich ja was ändern. Wenn man diese Aussagen hört, dann will man automatisch dem Gegenüber ein „Ach, lüg mich doch nicht an du Waschlappen! Steht dann wenigstens zu deinem Ich!“ entgegen brüllen, aufstehen und den Gegenüber am Kragen packen und solange schütteln, bis sich sein Mundwerk und sein Hirn eingependelt haben. Alternativ geht auch ein ganz einfaches Abgrenzen. Viele lachen ob meiner Erwähnung von „einfach“ und „Abgrenzen“ in einem Satz. Ich auch. Mir kommt gerade der Kaffee durch die Nasenlöcher wieder raus, so sehr lache ich. Ich bin schon ein lustiges Früchtchen. Abgrenzen und einfach, was für eine naive Vorstellung, hahaha.
Zurück zur Ernsthaftigkeit des Lebens. Es gibt Phasen im Leben, in denen es einem unterschiedlich gut oder schlecht gehen kann. Es gibt Dinge im Leben, wie Sport, die einem auf vielfältige Weise gut tun. Und alle Dinge im Leben muss man wollen, bevor man sie überhaupt erst anfängt. Das inkludiert nicht Aufs-Klo-Gehen, Schlafen oder Sportausrüstung bestellen. Das geht automatisch, ob man will oder nicht. Und wer dagegen ankämpft wird unschöne Erfahrungen sammeln. Ich rede jetzt nicht nur davon, dass man das Mittagessen verdaut in der eigenen Hose wiederfindet, sondern von der Nichts-zum-Anziehen-Depression des gemeinen Sportlers, das im Extremfall zu Substitutionsshoppinganfällen enden kann – der private Ruin ist dann nicht mehr weit.
Wer in einer nicht so guten Phase des Lebens sich gerade befindet, der hat einiges zu kämpfen. Mit sich, mit der Arbeit, mit dem Sinn des Lebens, mit der Beziehung, mit den Kindern, mit Schulden, Weiterbildungen, Hausbau, Umzug, Verletzungen, Schmerzen und viel mehr. Und es wäre schön, oh wie wär das schön, wenn man gerade in diesen Momenten die Kraft, Zeit, Muse und den Willen hätte Sport so zu betreiben, wie es einem gut tut. Ich werfe aber solchen Menschen gerne ein rotes Stop-Schild in den Weg. Denn jetzt ist nicht die Zeit für eine weitere Baustelle im Leben. „Aber ich kann das doch! Ich muss ja für einen Marathon trainieren! Ich muss doch jeden Tag Radfahren!“ wird dann gleich losgestänkert. Und ich lasse sie machen. Denn irgendwann merken sie, dass der Hausbau, die Beförderung in der Arbeit, das kranke Kind und das intensive Training zwar schon irgendwie gehen würden, aber man selbst und das Leben einfach auf der Strecke bleiben. Stresssituationen brauchen mehr Ruhe, mehr Zeit, mehr Selbstliebe, als Situationen, in denen alles flutscht. Erklärt sich eigentlich von selbst. Denn man kennt die Gesellschaft, die fordert. Das Image, das erhalten werden will. Die Karriereleiter, die weiterhin ansteigen muss. Und irgendwann geht die Phase weiter, weiter nach unten. Man steht dann plötzlich da und hält an. Evaluiert, zweifelt, analysiert, betrauert, vermisst. Denn für wen oder für was hat man sich denn so abgeplagt? Was davon bleibt? Was davon war einer Entscheidung vor Jahren entsprungen, die verbissen so weitergeführt wurde, weil man das eben zu tun hat? Und dann nimmt man sich zurück, weil man sich gerade fragt, wo man steht, wohin man will und was man will. Vielleicht muss man da nicht die Energie in Sport stecken. Vielleicht darf man grübeln, zweifeln, auswerten, evaluieren, verfluchen, beweinen. Egal was es ist, das einen Anhalten lässt. Jetzt ist die Zeit für einen selbst und wenn gerade das Laufen einfach nicht geht, dann ist das eben so. Wenn das Schwimmen morgens unmöglich ist, dann ist das eben gerade so. Und wenn das Fahrradfahren gerade Angst hervorruft, dann darf es das auch mal tun. Wenn plötzlich die Kraft beim Bouldern fehlt, dann darf man auch mal Kraft sammeln gehen. Wenn man immer mehr in Gedanken und seltener im sportlichen Hier und Jetzt ist, der darf sich auch mal auf eine Bank setzen und im Hier und Jetzt ankommen.
Es gibt gute und schlechte Phasen im Leben. Es gibt Dinge, die muss man wollen und Dinge, die Energie kosten. Manchmal läuft man auf Sparflamme, weil man die Energie verschossen hat – für Menschen, Momente, Karriere, Familie, Ziele – und auch für Dinge, die einem gut tun keine Energie folglich mehr aufbringen kann. Anstatt sich daran aufzuhängen und wie ein plärrendes Kind „Ich will aber! Ich will es wollen!“ zu zetern, kann man die Situation an der Hand nehmen. Und sie wie ein wahrer Sportler sehen: Warum ist sie da, was kann ich damit machen, wie gehe ich stärker aus dieser Situation hervor und wie gehe ich weiter, sodass ich mir selbst treu bleibe. Es ist eine Chance und auch wenn alles sehr schwer, unfair und belastend erscheinen mag, hat sie einen Grund. Und verdient nicht durch verbissene Leistungsanforderungen an einen selber weiter dramatisiert zu werden. Es bewertet dich niemand, außer du selbst. Und mal ehrlich, solltest du für dich nicht immer das Beste wollen?
Bild: www.johnbraynard.com
Ich frage mich gerade, warum ich so lange nicht mehr deinen Blog gelesen habe. Was für ein toller Artikel! Berührende Worte, perfekt getroffen und ich kann einfach nur JA schreien und dir zustimmen. Ganz genau so ist es. Ich kenne diese Situationen zu gut. Alle, die du da beschreibst. Und das nächste Mal, wenn ich ins Zweifeln gerate, dann lese ich diesen Artikel nochmal.
Liebe Grüße
Paula
http://www.laufvernarrt.de
Ach manchmal… 🙂 Freu mich, dass du vorbei geschaut und so viel Freude beim Lesen hattest. Das nächste Mal, wenn du ins Zweifeln gerätst, zückst du einfach deine Notfall-Liste und sagst den Zweifeln „Klar, ihr dürft schon mal hier sein, aber ich hab grad keine Zeit, ich muss nämlich xyz machen.“ ❤
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