Mein Fantasy-Lesestoff: „Welten wie diese“

„Und so gab man den sieben Todsünden sieben Namen, um sie zu ordnen, zu regeln, zu verstehen: Superbia des Hochmuts Fall, Avaritia für des Geizes Tod, Luxuria für Begehren des Falschen, Ira für die glühende Wut, Gula für das unendliche Faß und Acedia für das Ignorieren des Tuns.

Die sieben Todsünden wurden zu zweit den vier Himmelsstädten zugeteilt, einen Wächter an ihrer Seite, um zu ordnen, zu regeln, zu verstehen. Denn auch wenn sie Todsünden sind und Djannaham‘s Geburten seien, so formen sie doch seit jeher das Leben.

Doch die Regel gilt: Wir müssen sie ordnen, regeln, verstehen.“

–Geburtenbuch

Es dämmerte ihr, dass sie vielleicht doch verrückt war, als der Mülleimer sie ansprach. Sie hatte ihm weder eine Frage gestellt noch bewusst in ein interessantes Gespräch verwickeln wollen. Trotzdem sprach er mit ihr. Nun, am Anfang war es eher ein „Psst“ anstatt einer höflichen Anrede wie „Entschuldigen Sie bitte, junge Dame“ was dazu führte, dass sie das „Psst“ zu allem möglichen einordnete. Dreizehnjährige Jungs, die irgendwo am offenen Fenster saßen und fies grinsend Passanten zuflüsterten. Oder ein Passant hinter ihr, der ihr etwas Obszönes an den Kopf werfen wollte. Oder eine neue Vogelart, die anstatt einem melodischen Trillern ein verruchtes Wispern durch die Gegend plärrten. Vielleicht war es auch ein Geräusch, erzeugt durch ein Radwechsel dreihundert Meter entfernt in einem Innenhof aus dem das Geräusch nur verzögert flüchtete und um fünf Ecken, durch eine Wohnung und an drei Autos vorbei schlussendlich bei ihr ankam und eben ein „Psst“ erzeugte. Als nach dem „Psst“ aber noch ein leicht forderndes „Ey, du!“ folgte, war sie sich sicher: das war weder ein Vogel noch ein Geräusch von einem Radwechsel. Es sprach jemand. Jetzt stellte sich die Frage ob tatsächlich sie gemeint war oder nicht doch jemand den Bordstein leicht gereizt anmachte.

Sie blickte sich unauffällig und langsam nach links und rechts um. Aber sie war alleine an der Bushaltestelle. Nur das schummrige Leuchten des Wartehäuschens, in dem ein Fahrplan hing, ein vergilbter Überblick der Busgemeinschaft sowie Werbung für die Monatskarte. Um die schmale Lampe schwirrten Insekten, begrüßten ihre dahin geschiedenen Bekannten in den Spinnennetzen und in der Lampenfassung und surrten ungeduldig hin und her. Es wehte gelegentlich ein lauwarmer Wind, der aber nicht kalt genug war, um abzukühlen. Daher wickelte sich die mollige Wärme des Sommerabends um sie, während sie da stand und überlegte, ob sie ihren iPod ausgemacht hatte. Aber welches Lied ihrer Playslist fing mit „Psst! Ey, du!“ an.

Das Zirpen der Grillen erfüllte die Nacht, in der Ferne rauschten Autos über Straßen, der Biergarten schickte lärmende Geselligkeit zu ihr. Und dem Mülleimer platzte der Kragen.

„Ey, verdammte Axt, ist das denn so schwer sich zu mir zu drehen und anstatt mich zu ignorieren ein normales Gespräch anzufangen?“

Sprachlosigkeit hing in der Luft, sie wusste nun wirklich nicht, was man darauf antwortete. Der Mülleimer jedoch war pikiert. Wütend. Beleidigt? Schwer zu sagen, so ganz ohne Mimik. Schließlich war es ja ein Mülleimer, meine Güte.

„Sorry.“ brachte sie dann schließlich hervor. Sie fragte sich auch, ob sie zu lange in das grelle Licht der Lampe geblickt hatte und nun eigentlich epileptisch zuckend auf dem Boden lag und das hier halluzinierte. Könnte sein. Wäre ja nicht das erste Mal, dass ihr Kopf durchdrehte.

„Sorry“ äffte sie der Mülleimer nach. Erstaunlich, dass Mülleimer sogar jemanden nachäffen können zumal sie eigentlich erst recht nicht reden. „Man bemüht sich dich zu finden, mit dir Kontakt aufzunehmen, dich nach langer Suche anzusprechen und du hast nichts besseres im Sinn als so zu tun als wäre ich Luft. Und dazu noch recht beschissene Luft, ja, Scheißluft! Bin ich ein Dixie-Klo oder was?!“ keifte der Mülleimer.

„Ne. Kein Dixie-Klo. Ein Mülleimer.“ klärte sie ruhig auf. Fakten sind schließlich Fakten.

„Ein was?“ fragte der Mülleimer stockend.

„Naja, ein Mülleimer.“ Sie überlegte wie man das noch erklären könnte. „Ein Behältnis für Müll, das an öffentlichen Plätzen und so angebracht wird. Für Müll.“

„Du willst mir sagen, dass ich – ich! – ein Mülleimer bin? Ein verdreckter, stinkender, klebender, vor sich hin gammelnder und nicht mal mit dem Arsch angesehener Mülleimer? Ist es das was du mir sagen willst? Ein physischer Mülleimer?!“ Der Mülleimer kreischte fast.

„Ja.“

In der Stille, die entstand, schwirrte eine Motte verwirrt durch die Gegend auf den nah gelegenen Bauernhof zu und wieder zurück zum Licht.

„…wirklich?“ kam die Frage kleinlaut.

„Tut mir leid, für mich bist du ein Mülleimer.“ Sie zuckte mit den Schultern, relativ ratlos was man einem Mülleimer, der eine Selbstfindungskrise hatte, denn nun tröstendes sagen konnte. Keine Sorge, das wird schon? Irgendwie wirst auch du eine Salatschüssel? Mülleimer werden unterschätzt, du bist das Rückgrat der sauberen Gesellschaft? Ihr fiel nichts ein, aber ihr Gedankengang wurde auch vom hochwertigen Gefluche gestört.

Erst als etwas Ruhe in das Geschimpfe kam, verstand sie, dass ein jemand an der Situation schuld sei. „Dieses geleckte Aas! Das kommt davon, wenn man ein jedem vertraut – selber schuld, verdammt noch mal! Ein Mülleimer! Ich muss der Witz des Jahres im gesamten Distrikt sein. Oh ich schwör dir, wenn ich dich und deine beschissenen scheiß…“

„Machs gut!“ sagte sie, als der Bus quietschend zum Halten kam und die Tür aufschwung. Sie zückte ihren Geldbeutel und stieg die Stufen hinauf. Hinter sich konnte sie ein „Ah, was, halt, warte! Verfluchte Kacke…“ hören. Der Busfahrer schaute verdutzt. „Kommt da noch jemand?“ und sie antwortete ruhig „Ich glaube das kam vom Hof da drüben. Ich war die ganze Zeit allein da. Einmal bitte.“ und damit hielt sie ihm den Geldschein hin. Er nickte, kassierte ab während aus dem leisen Radio Musik strömte. Durch das offene Fenster hörte sie die Grillen zirpen, es war, als hätte sie zur Geräuschkulisse des Sommers noch das Radio dazugebucht.

Die Türen des Busses schlossen sich mit einem sanften Plopp und sie setzte sich ans Fenster, blickte hinaus. Mit der Sommergeräuschkulisse fuhr sie dem Mülleimer davon, der noch immer fluchte. Einerseits darüber, dass er eben ein Mülleimer war und andererseits darüber, dass er nichts machen konnte, um sie am Einsteigen in diesen Bus zu hindern. Denn welcher Bus zog denn schon die absolute Dunkelheit hinter sich her?

Das Lärmen des Motorengeräusches, das Wehen des Windes, das am offenen Fenster den Bus füllte, das Murmeln des Radios. All das erzeugte ein angenehmes Grundrauschen, das Sahar beruhigte. Sie konnte das komische Gefühl, das sie seit Tagen verfolgte, noch immer spüren, aber es war weniger ausgeprägt. Vielleicht wurde es von sich aus weniger, nachdem sie schon seit drei Tag auf der Flucht war. Flucht – eigentlich das falsche Wort. Sie hatte sich nur entschieden, einfach mal niemanden der ihr nahe stand ins Verderben zu stoßen. Natürlich unabsichtlich. Das absichtliche hatte sie seit ihrer Kindheit, seit sie acht Jahre alt war, mit Freuden erledigt. Unausstehliche Schulkameraden, nervige Nachbarn, Ball klauende Kinder, verzogene Gören und eben die ganze Liste persönlicher Feinde. Sie wusste, dass sie ein Talent hatte sich desaströse Vorfälle oder eher Unfälle auszumalen. Je stärker sie sich diese ausmalte, je öfter sie darüber nachdachte, je größer ihre Wut war, desto wahrscheinlicher war es, dass genau diese herbei fantasierten Racheszenarien Realität wurden. Aber die letzten Tage, die letzten Wochen sogar, hatten eine feine aber klare Grenze überschritten. Und das Blöde an der ganzen Sache war, dass sie nichts dafür konnte. Sie wusste, was sie sich bewusst herbei wünschte, aber nun geriet es außer Kontrolle. Sie musste nur etwas seltsames träumen und schon war das ausreichend, dass sie sich in einer Miniversion ihrer verwirrten Träume befand – im echten Leben. Und zwar mit Menschen, die ihr etwas bedeuteten, die in ihren Augen unschuldig waren, die sie nicht kannte.

„Scheiß Gabe…“ murmelte Sahar leise.

Sie war sauer. Erstens hatte sie darauf von Anfang an verzichten können – auch wenn es recht Spaß machen konnte miesen Menschen das Leben zur Hölle zu machen – und zweitens sollte man doch seltsame Gaben oder was auch immer es war zumindest im Griff haben. Wer liefert denn Gaben ohne Bedienungsanleitung aus? Ein „Wird schon irgendwie laufen, was“ hilft hier einfach nicht mehr. Spätestens als sie ihre Nachbarn nacheinander umbrachte war ihr das klar. An ihren Händen klebte kein Blut, gedanklich jedoch ertrank sie gerade in genau diesem. Es sah am Anfang wie ein Unfall aus. Bis der nächste Unfall passierte. Und dann der nächste. Und Sahar klar wurde, dass genau diese Träume, diese Ängste, sich bewahrheiteten. Es passierte natürlich immer wieder mal, dass ein Auto mit zu hoher Geschwindigkeit durch die Straßen fuhr, ein Mann zwischen zwei Autos auf die Straße lief und wie eine lebensechte Puppe mit den Gliedmaßen schlenkernd durch die Luft segelte, nur um danach Blut und Gehirnmasse auf dem sommerlich warmen Asphalt zu verteilen. Passiert immer wieder mal – meinte auch die Lokalzeitung. Sagte sich Sahars Familie. Betete sich Sahar Tag für Tag vor. Bis die Fortsetzung folgte und ein „Nein, bitte nicht“ jedes Mal in Dauerschleife lief, als die Nachrichten ertönten oder sie auf Facebook schockierende Meldungen präsentiert bekam. Ein „Mann, das wäre ja total heftig, wenn dieser Kran einfach umfallen und diese Menschen da unter sich begraben würde.“ wurde von ihrer Gabe mittlerweile in ein „Hey, super Idee! Lass uns doch einen Massenmord mithilfe eines schönen Liebherr-Krans machen! Panik inklusive!“ übersetzt. Ein Grund mehr, einfach abzuhauen und alle Menschen, die noch lebten und ihr etwas bedeuteten von sich zu schieben.

Der Bus hielt, zwei Menschen stiegen ein und brachten lauwarme Sommernachtsluft in das Gefährt. Draußen war es nun dunkel, ein blauer Streifen stand jedoch noch immer dort, wo die Sonne untergegangen war. Die gelben Laternen an den Straßen leuchteten in die warme Nacht hinein, Menschen in den Dörfern die sie passierten waren unterwegs, die Biergärten waren voll und strahlten gesellige Wärme aus.

Sofort wandte Sahar ihre Gedanken ab. „Nicht drüber nachdenken, nicht darüber nachdenken, denke nicht darüber nach…“ sie zwang sich an alles zu denken, nur an keine möglichen Vorfälle in Biergärten oder Szenarien, die eintreten könnten, aber nicht unbedingt mussten. Sie starrte auf den Gang im Bus, auf die New Balance Schuhe eines Passanten, die im dunklen Licht eine undefinierbare Farbe hatten.

„Alles in Ordnung?“ fragten dann die Schuhe und Sahar blinzelte überrascht.

„Was?“ nuschelte sie und verstand erst jetzt, dass der Besitzer der Schuhe sie gefragt hatte. Nicht die Schuhe. Wäre aber nach dem sprechenden und äußerst entrüstet wirkenden Mülleimer keine besondere Überraschung gewesen.

„Alles in Ordnung bei dir? Du schaust drein, als wär dir schlecht.“ wiederholte er.

„Hm, ja. Alles gut, ich war nur in Gedanken.“

„Ich hab einen Kaugummi, wenn du magst.“ Sahar blinzelte. „Du weiß schon, das soll gegen Übelkeit helfen.“

„Danke, aber mir ist nicht schlecht.“ lehnte Sahar ab und zwang sich zu einem Lächeln. Demonstrativ drehte sie den Kopf nach links, zum Fenster, und wünschte sich nicht direkt am Gang zu sitzen. Wenn sie sich jetzt ans Fenster setzen würde könnte das der Kaugummityp entweder als Einladung oder als absolute Unhöflichkeit verstehen. Letzteres war ihr egal, aber was sie nicht gebrauchen konnte, war jemanden neben ihr. Alles nur das nicht.

„Weiß du,“ fing der Kaugummityp an und sie bemerkte, dass er sich näher an sie ran gesetzt hatte. Sie fluchte innerlich. „ich dachte eigentlich, dass unser erstes Treffen nicht so peinlich ablaufen würde. Also peinlich für mich.“

Oh na bravo. Eine Anmache des niedrigsten Niveaus. Im Bus, mit Kaugummi. Nur weil sie seine beloppten Schuhe angestarrt hatte. Wenn er das schon als Einladung verstand, dann wagte sie es garnicht erst ihn direkt anzusehen. Nicht, dass sie dann schon verheiratet waren. Daher blickte sie nicht zu ihm, sondern nach links aus dem Fenster und schaute den vorbeiziehenden Lichtern zu.

„Das erste Treffen hatte ich mir praktisch schon perfekt ausgemalt. Schließlich hab ich von dir schon verdammt viel gehört – du von mir natürlich noch nichts. Wäre auch zu schön gewesen, aber Regeln sind nun mal Regeln. Und dann, dann passiert sowas.“ er lachte leise. „Ein Mülleimer begrüßt dich.“

Sie konnte ihn den Kopf schütteln hören, als sie erstarrte. „Das nenne ich mal einen prima Start, so müsste man alle Treffen starten. Nächstes Mal könnte ich vielleicht auch der Handtrockner auf der Damentoilette sein. Oder der Aschenbecher am Bahnhof. Hat alles seinen Reiz, oder?“

Sahar blickte ihn an und glaubte sich verhört zu haben. Ihr gegenüber saß ein blonder Mann, weder jung noch alt und mit unwirklich leuchtenden Augen. Sein Gesicht hätte unter Umständen als „attraktiv“ durchgehen könnten, jedoch zog sich auf seiner linken Seite von Stirn bis zum Brustknochen hinunter eine lange Narbe, die sich bei seinem Lächeln verformte. Deswegen hatte er die Kapuze von seinem Sweatshirt über die blonden Haare gezogen, um sein Gesicht nicht ganz in das grelle Licht des Busses beim Einsteigen zu entblößen. Alternativ hätte es wohl sonst mindestens einen dummen Spruch des Busfahrers gegeben.

„Du bist der Mülleimer?“ Sahar sprach es einfach aus, Verhörer hin oder her.

Er grinste wieder, seine Augen funkelten im leichten Schatten der Kapuze.

„Genau der bin ich.“

„Aha.“

„Und stets zu Diensten.“ er ahmte eine übertriebene Verbeugung im Sitzen nach, das Grinsen verging ihm jedoch nicht.

„Okay.“ antwortete Sahar.

Ein paar Sekunden blickte Sahar ihn einfach an und er blickte erwartungsvoll zurück.

„Also…“ fing Sahar unsicher an „wie ist es denn so als Mülleimer? Stressig, mit all dem Müll umzugehen? Ich kann mir vorstellen, dass es ganz schön stinkig sein kann. Ich mein, bei so einem warmen Sommer und dem ganzen Zeug da“ Sahar unterbrach sich und zuckte mit den Schultern. Was fragte man denn da? Wenn man nicht nur selbst den Verstand verliert, sondern auch noch das Gegenüber ohne Stottern eine irrsinnige Geschichte erzählt – wie reagiert man darauf?

„Ach“ fing er an „das liegt schon etwas länger in der Familie. Mein Vater war immer der Meinung die Familie müsse in Richtung Kochtöpfe gehen – schließlich war er einer – und meine Mutter als Zahnputzbecher hielt es für‘s Beste, ich würde das Familiengeschäft weiter betreiben. Man kann mich fast als kleiner Rebell bezeichnen, dass ich ein sogenanntes „dreckiges“ Geschäft ausgesucht hatte. Aber hey, jemand muss den Job machen!“ fing er an. Sahar nickte, halb zustimmend, halb automatisch reagierend. Schließlich hatte sie vor einer kurzen Weile auch noch mit einem, diesem?, Mülleimer gesprochen. Sie legte sich die Hand an die Stirn und erwartete fast, diese kochend heiß vorzufinden. Nichts, sie war kühl wie eh und je. Also keine Sommergrippe und keine Erklärung.

„Hey, Sahar!“ unterbrach der Fremde sie in ihrem Gedankenstrom, „du glaubst mir das doch nicht wirklich?“ Er lachte fröhlich. „Ich bin nur deswegen in dieser Form gewesen, weil mich die Portalsmeisterin auf dem Kasten hatte. Daher wurde ich statt in einen Erdenkörper aus Witz in ein Objekt gesperrt – unglaublich lustig sag ich dir. Vor allem, weil es einem zu Beginn wirklich nicht auffällt!“

Sahar runzelte die Stirn. „Sag mal, hörst du dir auch selber zu, wenn du redest? Du klingst, als wärst du stockbesoffen und auf irgendwelchen komischen Drogen – miese Kombi.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab ein paar Scheißtage hinter mir und jemanden wie dich, der offenbar ein ernstes Problem mit der Realität hat, kann ich wirklich nicht gebrauch. Also bitte, bei aller Mülleimerliebe, bleib mir vom Leib.“ Sie drehte den Kopf demonstrativ zur Seite, ihm den Rücken zu.

„Sahar…“ fing er an, als sie ihn wütend unterbrach. „Und noch was: Ich habe dir meinen Namen nie genannt. Das heißt du bist alles andere als die beste Wahl für einen Busnachbarn, vor allem wenn du aussiehst, als würdest du dich zum Spaß in ein Scherbenmeer kopfüber stürzen! Hör auf mir auf die Nerven zu gehen, Creep.“

Mit den Worten schnappte sie sich ihre Tasche, stand auf und wollte zum Busfahrer vor gehen. Wenn der verrückte Fremde ihr zu nah kommen würde, dann könnte der Busfahrer wenigstens eingreifen und sie hätte Zeugen.

„Sahar warte!“ setzte er an und packte doch tatsächlich ihren Arm. Wütend drehte sie sich um, ein paar alles andere als feine oder auch sinnvolle aber zumindest beleidigende Worte auf der Zunge. Aber ihr wurde die Luft aus der Lunge gepresst, als der vordere Teil des Busses mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte, sie gegen den Fremden schleuderte und die Hitze der Explosion im Rücken brannte. Schmerzhaft hart prallten sie zu zweit auf den Busgang, als sich die Welt zu drehen begann, der Bus in seinen brennenden Fetzen die Kontrolle verlor und sich überschlagend gegen die Leitplanken warf, diese durchbrach und den Abhang hinab rollte. Zum Glück schaltete ihr Bewusstsein nach dem zweiten schmerzvollen Schleudergang im rotierenden Bus aus, sodass sie ihren eigenen Tod nicht miterlebte.

Sie war tot. Sean seufzte und blickte auf ihren Körper hinab. Sein eigener Erdenkörper lag irgendwo in den Teilen des Buses, höchstwahrscheinlich ebenfalls in Teilen. Er hatte zumindest ein paar Brüche gespürt und glaubte sich an einen vorbeisegelnden Finger erinnern. Er glaubte auf jeden Fall, dass es einer seiner eigenen gewesen sein musste. Sahar hatte er nämlich so gut wie es eben ging in diesem ärgerlich beinschränkten Körper beschützt – schließlich hatte sie nur diesen einen Körper. Noch.

Aber was nun? Sean blickte sich um, er stand mitten auf einem Feld, rundherum Stücke des Busses, ein paar brennende Teile des Hauptwracks hatten sich bis hin zur Baumreihe verteilt. Ein paar Gepäckstücke hatten sich in Fetzen über die vom Abendtau nass werdende Wiese verteilt, ebenso wie die anderen Mitfahrer. Aber um die konnte sich andere kümmern, sein Job war das sicherlich nicht. Er seufzte nochmal und raufte sich die Haare. Die brennende Wracke knackten, beleuchteten die fast dunkle Wiese und den immer dunkler werdenden Himmel mit gelblich-roten Flammen. Funken stoben auf, entfernt konnte er die Sirenen der heran rasenden Krankenwagen und Polizei hören und ein leicht warmer Sommerwind wehte vom Wald her, trug das Zirpen der Grillen näher und das verträumte Rauschen der Bäume. Aber für verträumt war jetzt keine Zeit. Der Grund für die Explosion und den unbestellten Schleudergang war nämlich noch da und Sahars Körper irgendwie nicht in der Lage von selbst zu fliehen. Geschweige denn zu gehen. Oder zu leben. Tote menschliche Körper waren wirklich nervig. Säcke voller sinnloser Fleischstücke, für manche Futter, für andere wiederum Grundlage für beliebte. Heilmittelchen die auf dem Schwarzmarkt gute Preise erzielen. Verdammt gute Preise. „Reiß dich zusammen Seany-Boy!“ ächzte Sean, sich selbst ermahnend, als er Sahars Körper auf die Arme wuchtete und in die Richtung des Waldes ging. „Klar… dass dieser Job, wieder… richtig mies werden würde…“ jammerte er während er mit Sahar auf den Armen durch das Trümmerfeld stakste.

Hinter ihm machte sich langsam metallisches Staksen hörbar, gefolgt von einer stärker werdenden Erschütterung, als würde irgendwas großes auf die Unfallstelle zukommen. Gemählich, denn so groß wie dieses etwas war, brauchte es nicht viel Schritte. Der Geruch einer durchdringenden, aber nicht zu fassenden Fäulnis stieg wie Nebel an Sean empor. Das Stampfen wurde lauter, gefolgt von Kreischen als würde sie falsche Metall in den Boden krallen.

„Scheiße, verdammte.“ fluchte Sean, dem die Geräusche vertrauter waren, als ihm lieb gewesen war. Er beschleunigte die Schritte und hastete nun in Richtung Wald. Um ihn herum fing das Metall der Busstücke an zu schwelen und verformte sich wie von unsichtbarer Hand zu kleinen unförmigen Bällen. Der Himmel nahm die Farbe tiefdunklen Schwarzes an, zu schwarz, als dass man es überhaupt als solches hätte bezeichnen können. Die Sterne wurden verschluckt, die Luft surrte leicht und blieb dann stehen. Dunkle Schemen zogen sich auf der Wiese entlang, hinter Sean her und schluckten auch da alles, was sie erreichten.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ japste Sean, als er nun mit Sahar so schnell er konnte auf den Wald zurannte. Die Tote wackelte hüpfend auf seinen Armen und Sean war hin und her gerissen, was er denn nun tun sollte. Was war jetzt, in dieser beschissensten aller Scheißsituationen, die beste Wahl? Zumindest hatte er den Kriegsschrei noch nicht gehört, das heißt, es war noch nicht nah genug. Innerlich lachte er jedoch hysterisch ob der Überlegung, dass er tatsächlich das als soetwas wie Glück ansah. Aber auch wenn er daran dachte, dass sie fast den Wald erreicht hatten – oder doch eher die Baumreihe – würde er von da aus nirgendwo mehr hinkommen. Er war gefangen, wie ein kleines dummes Vögelchen. Er musste da weg, aber eben mit dem Körper von Sahar und das war das mittlere bis gigantisch riesige Problem an der Sache. Mit ihr an seiner Seite oder eher auf seinen Armen konnte er die Form nicht wechseln und er hatte alles andere als Zeit eine Angriffstaktik zu überlegen die das Überleben der beiden ermöglichte. Nun, das Überleben von ihm und das Körper-in-Ganz-lassen von Sahar. Was für eine komische Situation, aber primär definitiv beschissen.

„Also gut!“ japste er und blieb stehen, legte Sahar ab und stellte sich vor sie – als lebende Schutzmauer – und aktivierte sein Para-Ich. Doch bevor er überhaupt eine Sora-Aktivierung vornehmen konnte, brannten alle seine Zellen in gleißender Wärme.

„Das Portal!“ rief er laut aus und erinnerte sich, dass er nicht alleine war. Er blickte entsetzt hinter sich und sah Sahar nicht im Licht. „Stop!“ brüllte er und versuchte Sahar zu fassen. Sie konnten ihn nicht zurück holen, ohne Sahar mitzunehmen. Wenn sie hier den Körper verlor, dann verloren sie sie komplett. „Stop ihr verdammten Idioten!“

Doch es nutzte nichts, egal was er sagte. Innerhalb weniger Sekunden verstärkte sich das Gleißen, wurde ein festes Weiß und verwandelte sich in einen Blitz, der sich dann in Funken auflöste. Sean war verschwunden, Sahar lag noch auf der Wiese. Und war in den Händen des etwas, das sie bereits umzingelt hatte. Sie war zwar tot, aber nun hatte das etwas auch noch ihren Körper – die Seele hatte er sich schon längst gekrallt.

„Scheiße, verdammter Mist! Ihr absoluten Vollidioten!“ brüllte Sean, während er umherlief. „Wieso holt ihr mich zurück und nicht auch sie? Sollte ich nicht sie holen? Unter allen Umständen? Warum habt ihr nicht auch sie mitholen können, es wäre kein Problem für euch gewesen. Wisst ihr was das heißt, hm?“ Er kochte vor Wut und schnappte sich Lehar, die ihn geholt hatte – oder so hatte sie es gesagt. „Sie ist jetzt weg.“ Seine Augen funkelten. „Weg! Sie ist drüben und als unsere einzige Chance damit verloren.“ Er ließ von Lehar ab und blickte sie abschätzend und voller Abschaum an. „Unsere Chance ist verloren.“ Lehar sagte nichts, sondern schlug nur die Augen in stiller Schuld gen Boden. Wie hätte sie ihm denn auch in diesem Zustand klar machen sollen, dass Macinus gerade einen riesigen Teil des Umfelds ausgelöscht hatte und sie ihn da rausholen hatte müssen. Ihn zu verlieren, nur weil sie noch nicht soweit ist, würde sie niemals auf ihre Karte setzen. Niemals.

Sahar lag auf einem rauen Boden, zumindest spürte sie das, als sie langsam zu sich kam. Harter, rauer Boden, den sie überhaupt nicht zuordnen konnte. Überhaut konnte sie garnichts zuordnen. Weder noch wie sie hierher gekommen war, was genau passiert ist, warum sie überhaupt ohnmächtig gewesen war. Sie setzte sich langsam auf, aber es fiel ihr wahnsinnig schwer. Als wäre ihr Körper tagelang gelegen und sie würde ihn jetzt nach langer Pause das erste Mal wieder nutzen. Nur zögernd gehorchten ihr die Muskeln. Sie setzte sich langsam auf und erblickte einen schwarz-goldenen Vogel, einen halben Meter groß. Seine zwei Köpfe blickten sie neugierig an. Als sie zurück starrte stieß der zweiköpfige Vogel ein doppelt-kehliges Krächzen aus und legte dann den Kopf schief.

„Du bist zu dir gekommen.“ stellte er dann fest.

Sahar überlegte eine Weile, wie sie diese Sachen am besten verarbeiten sollte. Entweder direkt mit einem aus dem Mittelalter stammenden jungfräuchlichen Aufstöhnen und Zurücksinken in die Ohnmacht. Oder mit einem kreischend Schrei, gefolgt vom panischen Werfen aller möglichen Dinge, die eben so im greifbarer Nähe waren. Nachdem sie aber auf beides keine Lust hatte, ihr Kopf sowieso widerlich pochte und ihre Brust sich seltsam eingeklemmt anfühlte, seufzte sie nur leise und starrte das schwarz-goldene Wesen mit einem Funken Gereiztheit an. Schließlich war es ein überflüssiger Kommentar von dem Vogel gewesen.

„Ja, Sherlock.“ gab sie zurück und machte sich daran vorsichtig und sehr langsam aufzustehen. Die Umgebung war ihr komplett fremd, aber sie fühlte sich nicht wohler nur weil dieses Wesen, dessen Schnabel seltsam metallischen aussehendem mit Glyphen versehen war, mit ihr sprach und sie sozusagen begrüßte. Sie war sich nicht ganz sicher, aber schließlich konnte das Ding ihr mit Freude die Augen auspicken. Entsprechend war es keine doofe Idee sich umzusehen.

„Mein Name ist nicht Sherlock.“ krächzte das Wesen. „Mein Name ist Gadhor. Das Auge Macinus‘.“

„Okay.“ gab Sahar zurück. Wer auch immer Macinus sei, er hatte sich da ein interessantes Auge ausgesucht. Aber nachdem sie wohl halluzinierte, spielte das sowieso keine Rolle. Sie blickte sich dennoch neugierig um, so echt hatte sie bisher noch nie einen Traum wahr genommen. Halluziniert hatte sie bisher auch noch nie. Also ein erstes Mal, das hätte sie nicht erwartet. Nach all den Geschehnissen um sie herum hätte sie nicht gedacht, dass sie noch ein weiteres, seltsames und irgendwie für ihre Verrücktheit sprechendes Erlebnis haben würde. Erst der Mülleimer, dann dieser… Traum.

Die Landschaft um sie herum war seltsam. Alles sah normal aus und dann wieder nicht. Die Schatten hatten beim genaueren Hinsehen eine falsche Farbe, die Blätter an den Bäumen wirkten beim zweiten Blick nicht grün sondern schimmernd in einer ungenauen Farbe und der Himmel waberte ungestüm voller Wolken in surrealen Farben. Aber am seltsamsten war das Licht. Es schien von überall zu kommen und dennoch gab es bei allem einen großen und ausladenden Schatten. Zwar wärmte das Licht, aber Sahar fragte sich, ob die Wärme nicht einfach beständig da war und das Licht nur ein zufälliger Mitwirkender dieser ganzen Halluzinations-Szenerie war.

„Hörst du mir zu?“ krächzte Gadhor ungeduldig.

„Hm, was?“ fragte Sahr nach, aber blickte sich weiter um. Die Landschaft erstreckte sich in alle Richtungen gleich: Bäume, Stein und am Horizont irgendwo eine entfernte Bergkette.

„Hrrrr.“ tönte Gadhors Stimme, definitiv beleidigt, dass sie ihm nicht zugehört hatte. „Ich sagte: Ich werde dich zu Macinus bringen. Du musst nichts tun, außer mir zu folgen. Bist du bereit?“

Also ein Besuch bei einem Unbekannten in ihrer Halluzinationswelt – oder auch seltsamen Traumwelt – geleitet durch einen komischen Vogel, der sprach. Na, wenn das keine Abwechslung zu den sonstigen Chaosvorfällen in ihrem Leben ist, dann wusste sie nicht. Aber ob das nicht auch hier funktionierte?

Sie blickte Gadhor an und stellte sich vor, wie er beim Losfliegen einen Baum passierte, der jedoch umstürzen würde und den Vogel unter sich zermalmen würde. Angestrengt blickte sie den Vogel an, der seinen Kopf nur schief legte und mit den goldenen Augen ein paar mal blinzelte.

Sie wusste jedoch nicht wann, wie und warum ihre Fantasien Realität wurden. Wann jemand von einem fliegenden Kieselstein erschlagen wurde und wann nicht. Sie seufzte.

„Ja, meinetwegen. Solang mich bei deinem Macinus Getränke erwarteten.“ antwortete Sahar auf die Frage von Gadhor. Der hatte noch immer den Kopf schief gelegt.

„Es ist verwundernd, dass du versuchst deine Kräfte hier wirken zu lassen.“ sagte er dann und blickte sie an. „Vor allem, da du doch wissen müsstest, dass deine Herrschaft nur über der Erde ist.“

Was? dachte Sahar verdutzt. Er merkte es? Er verstand, was sie überlegt hatte, was sie gedacht hatte?

„Warte! Was meinst du damit?“ fragte sie aufgebracht, doch Gadhor hatte die Flügel ausgebreitet und wollte ihr offenbar nicht erklären, warum er Gedanken lesen konnte. Oder hatte sie laut gedacht?

„Folge mir. Je länger du ohne Wappen hier bist, desto kürzer kann ich dich beschützen. Dein Tod hier wäre jedoch alles andere als erwünscht.“

Und damit flog er los, ließ Sahar mit ihren Fragen alleine.

Aber warum kümmerte sie das so sehr, wenn es doch nur eine Halluzination ist?

Mit langsamen und etwas holprigen Schritten, als würde ihr Körper nicht mehr ganz ihr gehören, ging sie hinter Gadhor her. Er flog einige Meter und wartete dann auf sie, seine goldenen Augen unbestimmt auf sie gerichtet. Und Sahar warf ihm abschätzende Blicke zu. Was wurde hier gespielt? Wo war sie gelandet und was genau war mit ihr passiert? Aber was half es, sie hatte keine Wahl außer dem sprechenden Vogel zu folgen und sich durch die seltsam falsch wirkende Welt zu begeben. In der Hoffnung, dass dieser Macinus ihr die Antwort geben könnte. Wohin hätte sie sonst gehen können?

Die Gedanken an das davor waberten wie eine schwarze Wolke in ihrer Erinnerung, sie tat sich schwer auch nur an das davor zu denken, warum sie jedoch hier war oder was die letzten Tage passiert war konnte sie beim besten Willen nicht rekonstruieren. Irgendwas war passiert, irgendwas war falsch. Nicht nur, dass hier die Schatten falsch waren und die Luft vor Wärme und Farben flimmerte, auch die Vögel klangen anders und fremd.

So abgelenkt merkte sie nicht, wie sich im sicheren Abstand von ihr jemand anderes auf die Verfolgung machte. Ein jemand, dessen durch und durch tattöwierten Arme milde im Licht glommen und leise hinter ihr her huschte.

Sean war noch immer nicht besserer Laune. Was Lehar getan hatte, war vielleicht wirklich sinnvoll gewesen, aber am Ende, hatte er Sahar verloren. Er konnte nicht nachprüfen, was mit ihr geschehen war. Denn einerseits ließ ihn Lehar nicht weg und andererseits war die Verwüstung dort, wo er die tote Sahar zuletzt bei sich gehabt hatte, so immens, dass dass alle Spuren vernichtet worden waren. Und dem, der für die Verwüstung und für die Entführung, den Tod oder die liebevolle Zerstückelung von Sahars Körper verantwortlich war, wollte und konnte er nicht gegenüber treten. Wütend stieß er ein „Fuck“ zwischen den zusammen gebissenen Zähnen hervor, die Unsicherheit was mit dem Körper geschehen war, machte ihn unsagbar wütend.

„Du bist ein Idiot.“ Eine schwache Wolke Tabakgeruchs waberte zu Sean hinüber. Auf der breiten Terasse, auf der er saß und die Beine auf das Geländer gelegt hatte, tauchte eine zweite Gestalt auf. Die schwarzen Haare, die dunkle Haut und die ägyptisch angehauchte Kleidung hätten ihn mit einem Fingerschnipsen in ein ägyptisches Gothic-Land manövrieren können – und er wäre nicht aufgefallen. Außer vielleicht mit den Hiroglyphen, die sich auf seiner rechten Schädelseite, die zur Hälfte rasiert war, ins Gesicht und den Nacken sowie Schulter ausbreiteten. Seine Finger glitten zur Zigarette, die schwarze Fäden durchzogen, und er stieß eine Rauchwolke in den abendlichen Himmel.

„Du regst dich auf, als hättest du jeden Verstand verloren. Dämlich. Als würdest du dich selbst und alles was mit dir zusammen hängt unter die vielleicht erfundene Idee dieses Mädchens ordnen.“ Er führte seine Hand zum Mund, nahm einen Zug und schüttelte den Kopf. „Dämlich.“

„Halt dich da raus, Agnoris.“ brummte Sean. Er blickte den rauchenden Mann mit dem langen geflochtenen Zopf schwarzen Haares nicht an. Er kannte ihn einfach zu gut, weswegen Sean versuchte sich auf das Farbenspiel am Himmel zu konzentrieren. Wolkenberge, die sich aufstapelten, dunkles Blau, das gefleckt verdeckt wurde von pastelligen Himmelsflecken, Wokenfeldern, Sonnenglimmen. Der Himmel war ihm immer das Liebste gewesen, groß, weit und unendlich. Das Licht der Sonne war golden, das Abendlich wurde stärker und das Farbenspiel wurde intensiver. Sean wusste jedoch, dass es noch zwei Stunden lang ein farbenprächtiges und intensives Spiel werden würde. Und das Meer, das vor ihm am Horizont lag, diente wie immer als glitzernder Spiegel. Reflektierende Strahlen, wellendes Leuchten und ein entfernter Ruf des Abenteuers – er war fast froh, dass die Stadt nicht näher am Meer war. Eventuell hätte er sich öfter weg gestohlen. Das Rauschen der Bäume, die bis hierher noch oben ragten, das entfernte Lärmen der Stadt und die warme Luft umhüllte ihn. Ob Agnoris das überhaupt mitbekam wagte er zu bezweifeln.

„Sean, ich halte mich dann raus, wenn es mich nichts angeht. Und das, was du getan hast und schon wieder planst zu tun, geht mich sehr wohl etwas an.“

„Spiel nicht den Heuchler, seit wann hast du denn plötzlich Interesse daran?“

„Hm, seit du abgehauen und das Mädchen beschattet hast, drüben in Barzach? Oder vielleicht seitdem du beinahe ums Leben gekommen bist, weil du dich einmischen musstest? Oder weil du denkst, dass dieses Mädchen eine von den sieben Todsünden ist?“ Er funkelte Sean an, der aufgesprungen war. „Was davon könnte deiner Meinung nach der Grund sein, dass ich denke, dass es mich etwas angeht? Was meinst du?“ Er drehte sich Sean zu, lehnte sich entspannt an die Rüstung an und vergrub die linke Hand in der Tasche. Seine schwarzen Augen waren herausfordernd und Sean kannte diesen Blick nur allzu gut. Er hatte jetzt recht wenig Lust sich von Agnoris wieder einmal eine Aufforderung zum Kampf aufzuhalsen oder gar wieder einmal in der Lichtzelle verbannt zu werden. Das waren alles andere als verlockende Aussichten. Deswegen stand Sean nur da und überlegte, wie weit er gehen konnte, die Hände zu Fäusten geballt.

„Lass das Agnoris.“ knurrte er dann. „Du weißt genau wie ich das gemeint hab.“

„Ja, ich weiß es. Aber ich frage mich, ob du weißt, warum du dich aufführst wie jemand, der wieder einmal an seine Stellung erinnert werden muss.“

Scheiße, verdammte.

Agnoris nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und hielt den kurzen glühenden Stummel mit Daumen und Zeigefinger über die Rüstung in den bunten abendlichen Himmel.

„Nun?“ fragte er gespielt geduldig. „Was meinst du, Sean.“

Sean schluckte und warf der Zigarette einen nervösen Blick zu. So eine Scheiße, irgendjemand muss geplappert haben, dachte er.

„Ich weiß wie ich mich aufführe, aber nicht wie jemand, der einen Reminder braucht. Ich hab die Nachricht auch so verstanden.“ seine blauen Augen sprühten vor unterdrückter Wut. Er wollte soviel andere Dinge Agnoris an den Kopf werfen, ihm seine eigene dämliche Zigarette auf die Stirn drücken, seine verfickte Regierungsidee in tausend Stücke reißen, ihn und seinen überflüssigen Clan in mit Steinen gefüllten Boxen stopfen und ins Meer werfen. Aber weder konnte er es nicht, noch durfte er es nicht. Obwohl – das „dürfen“ hatte ihn von den meisten Dingen im Leben nicht abhalten können. Aber das „können“ war ein ganz anderes Thema. Er war Agnoris bei Weitem unterlegen. Und Agnoris wusste das nur zu gut.

„So, glaubst du nicht?“ Agnoris lächelte sanft. „Dann seh‘ das hier einfach nur als eine Art… Untermauerung deiner eigenen Meinung an. Nicht, dass ich dich wieder mal in Barzach erwische. Oder bei diesem Mädchen. Oder mit dieser dämlichen Idee, dass die Legende der Todsünden tatsächlich bestünde.“ Er lachte leise, genauso wohlklingend wie seine ruhige Stimme klang. Doch Sean kannte die Zwischentöne.

Scheiße, scheiße, scheiße.

„Ich hoffe wir sehen uns nicht mehr so bald.“ Agnoris drehte sich um, sein Zigarettenstummel blieb in der Luft hängen, formte graue, schwarze und weiße Rauchschleier, die immer größer wurden und sich aufbauschten.

Als die Schleier dann schlagartig auf Sean zurasten, wusste er, dass er hier ab sofort nicht bleiben konnte und fort musste. Die rauchähnlichen Wirbel drangen durch Mund, Nase, Ohren in ihn ein und versetzten ihn in eine Welt voller stechender Krämpfe und Schmerzen, vernebelten die Sicht, malträtierten sein Inneres. Aus Sicherheit blockierte Sean immer seine Gedanken, seine Erinnerungen, sein Ich. Schmerz war ihm nicht neu, aber er hatte andere Pläne und Ziele und wusste nicht, was die Schleier mit seinen Gedanken anstellen konnten. Es war zwar nicht das erste Mal, aber Agnoris war immer für Überraschungen gut – vor allem als Clanausbilder von Sean.

Während Sean unter Schmerzen zu Boden ging leuchtete der Himmel über der Stadt in unfassbaren bunten Farben. Das goldene Licht erhellte die Wolkenberge in warmen Schemen und die Himmelswale vollführten ihre majestätischen Wolkensprünge. Wie entfernte Schemen tanzten sie langsam durch den Himmel, von Wolkenberg zu Wolkenberg, langsam drehend, entfernt singend. Mit ihren massigen Körper sahen sie im pastelligen Himmel wie Traumtänzer aus.

„Wie weit soll denn dieser Spaziergang noch gehen?“ fragte Sahar gleichmütig, während sie durch die seltsam falsche Landschaft marschierten. Schatten folgten, verschwanden, die Luft stand, beinahe greifbar und Gadhor flog von Baum zu Baum, auf sie wartend. Jedoch blickte er nicht zurück. Trotzdem war Sahar es müde durch diese so falsche Landschaft zu trotten. Sie hatte das Gefühl nicht richtig atmen zu können, der Himmel und seine seltsamen Farben lenkten sie von den meisten Gedanken ab.

„Nicht, dass ich es hier nicht toll fände oder etwas besseres zu tun hätte, aber ich kann mir manchmal schon etwas angenehmeres vorstellen, als in meinen seltsamen Träumen einem seltsamen Vogel durch diese seltsame Landschaft zu folgen.“ Der Boden unter ihren Füßen gab kein Geräusch von sich. „Wirklich, ne Menge besserer Sachen.“ murmelte sie.

Gadhor hatte auf einem Baum Halt gemacht, sah sie aber nicht an. Ob er überhaupt irgendetwas sah? Er wirkte wie eine komische Mischung zwischen Tier, Maschine und diesen überall herum irrenden Schatten. Vielleicht, weil das natürlich auch sein konnte, irrte sie gerade schlafwandlerisch durch die Gegend und folgte einer vom Wind aufgeplusterten Plastiktüte. Na prima. Kommt besonders gut, wenn man mit dieser Plastiktüte noch Gespräche führt.

„Also?“ hakte Sahar nach und blieb ebenfalls stehen. Die Landschaft um sie herum hatte sich nicht geändert, egal wie lang und weit sie schon unterwegs waren. Ein paar Bäume, eine triste Landschaft, Steinhügel, gelegentlich Ansammlungen von Bäumen und der Horizont verlockend am Ende.

„Wir sind bald da.“ krächzte der Vogel.

Sie seufzte. Bald war so ein dehnbarer Begriff. Er konnte Minuten, Stunden oder auch Tage umfassen. Und von einem Maschinen-Vogel gesprochen konnte es eventuell sogar was ganz anderes bedeutet. Sowas wie „Nie!“ oder „Wir werden ewig im Kreis gehen.“ oder „Ich bin eine Plastiktüte, hör auf mit mir zu reden!“. Sahar stemmte die Arme in die Taille und blickte sich um. Nichts. Aber auch sie selber verspürte nichts. Keine Müdigkeit, keinen Hunger, keinen Durst. Nur eine Wattebausch ähnliche Glocke um sie herum und ein nagendes Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte.

„Was heißt denn bald? Kann ich nicht einfach… gehen?“ versuchte Sahar das Gespräch in die Richtung zu lenken, die es ihr erlaubte entweder aufzuwachen oder diese skurille Welt zu verlassen. „Ich hatte bis dato nicht den Wunsch hier zu sein und diesen Macinus kennen zu lernen – und den Wunsch hab ich auch jetzt nicht.“

„Das ist egal. Macinus wird dich sehen.“ antwortete der Vogel.

Genervt stöhnte Sahar auf. Immer dieselbe Antwort. Sie hatte keine Ahnung wie lange sie schon hier war, aber sie wusste, dass sie schon ein paar Mal versucht hatte mehr Informationen zu bekommen. Sie hatte keine Lust mehr. Kurz bevor sie sich aus Protest einfach auf den Boden setzten wollte – vielleicht kam ja dann dieser Macinus zu ihr, wenn sie sich nicht von der Stelle bewegte – nahm sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Und kurz darauf ging der Baum und der Vogel Gadhor in blauen Flammen auf.

„Was…“ stieß Sahar erschrocken aus, während der Baum und der Vogel knisternd in grellen Flammen standen, die züngelnd in den Himmel leckten. Ihr wurde bewusst, dass der Angriff von hinten gekommen sein musste, sie hatte da etwas oder jemanden gesehen. Schnell drehte sie sich um und blickte einem seltsamen Augenpaar entgegen. Der Angreifer hatte sich geräuschlos hinter ihr aufgebaut. Sie sprang zurück, weg von dem Mann, aber er machte keine Anstalten, sie ebenfalls anzugreifen. Hinter ihr spürte sie die Hitze des Feuers, das lautlos vor sich hin flackerte. Wer war dieser Mann?

„Hallo Sahar.“ ließ er dann verlauten. Er kannte ihren Namen, wieder einmal ein Unbekannter, der wusste, wer sie war. Zumindest war es diesmal kein Vogel sondern ein Mensch – wahrscheinlich. Er hatte seltsam glimmende Zeichen an seinem Körper und seine Augen schimmerten in dem selben weißlich-bläulichen Licht.

„Warst du das?“ fragte Sahar ihn dann und deutete auf den Baum, auf dem noch immer der Vogel saß, in Schemen vor sich hin brennend. „Hast du Gadhor angegriffen?“

Der Unbekannte nickte.

„Aber das wird nicht lange anhalten, wir sollten gehen.“

„Gehen? Ich mit dir?“ fragte Sahar ungläubig.

„Ich bin nicht aus Spaß hier, sondern nur, um dich hier raus zu holen. Und wie gesagt haben wir nicht viel Zeit.“ Er hielt ihr die Hand hin. „Los.“

Sie blickte ihn an. Ihr Traum hatte eine seltsame Wendung genommen, die sie aber ebenfalls wie die erste nicht wirklich mochte. Ein fremder Mensch, der vor sich hin leuchtete und fast wie ein rachedürstiger Engel ohne Flügel aussah, wollte sie vor einem Vogelmaschinen-Fremenführer retten, der sie durch ein vollkommen falsches Land führte zu seinem Herren namens Macinus. Wenn sie das jemals jemanden erzählen würde, wäre das der Freifahrtschein in die geschlossene Abteilung.

„Ich weiß nicht…“ begann sie, als sich ein brennender Feuerball zwischen sie stürzte und Sahar zurück taumelte. Gadhor. Das was vorher noch mehr wie ein echter Vogel an ihm gewesen war, war nun verschwunden. Jetzt war er ein reines mechanisches Wesen, seine Augen glühten wütend und die metallenen Bestandteile glühten immer stärken in den Flammen. Auch ein paar Meter entfernt von ihm, konnte Sahar die Hitze spüren, die er ausstrahlte.

Doch zu ihrem Glück ignorierte der Vogel sie komplett und hatte nur Augen für den ungeplanten Besucher. Er stieß ein schrilles mechanisches Kreischen aus, das ihr durch die Knochen ging und in der Luft ein seltsames Echo auslöste. Dann stürzte er sich auf den unbekannten Mann. Wie aus dem Nichts zog dieser aus seiner Hand eine Waffe, die halb Metall, halb Flamme war und nahm den Angriff von Gadhor entgegen. Mit seinem spitzen Schnabel voraus attackierte der Vogel, wurde jedoch pariert und zur Seite geschleudert. Dabei klappte er jedoch seinen Flügel aus, der gleich einem Rasiermesser auf die Kehle zurasten. Mit einer rasenden Umdrehung hatte er das Schwert an seine Seite gepackt und blockierte den Flügel.

Gadhor ließ von ihm ab und rammte ihm mit einer heimtückischen Umdrehung die Klauen in den Oberschenkel, er nicht vom Schwert gedeckt war. Sahar konnte ein unterdrücktes Stöhnen hören, gefolgt von einem lauten Kreischen, als er sein Schwert gleich einer Sichel noch oben gezogen hatte und die linke Flanke des Vogels aufriss. Schlagartig wich Gadhor zurück. Etwas, das wie Blut aussah, aber brannte, tropfte von ihm hinab. Ein paar Sekunen schwebte er unsicher in der Luft, dann drehte er sich zu Sahar um. Sofort wich sie zurück, als der brennende, blutende Vogel seine Augen auf sie richtete. Sie hätte nicht mal den Hauch einer Chance, aber Gadhor sah sie nur an – und schwang sich dann kreischend in die Höhe und verschwand er im falsch schimmernden Himmel.

Mit klopfendem Herzen blickte sie gen Himmel, ihr Puls raste.

„Komm jetzt.“ riss sie die Stimme des Unbekannten aus den Gedanken und sie fuhr erschrocken zusammen. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er einfach ihre beiden Hände genommen. Schlagartig wurde ihr warm und ihr Haut prickelte seltsam, erfüllte sie von den Händen beginnend und wanderte ihren Körper entlang. Alles um sie herum verschwand in einem gleißenden Licht und als das Prickeln ihren Hals hinauf wanderte schnappte sie nach Luft. Kurz bevor sie dachte zu ersticken erglomm alles in einem grellen Blitz weißen Lichts, nur um sie Sekunden später schmerzhaft hart auf dem Boden aufkommen zu lassen. Sie stürzte fast, doch der Unbekannte hielt sie noch an den Händen, sodass er sie auffing.

Sahar blinzelte verwirrt und unsicher. Erst langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Umgebung. Aber das war nicht das einzige, was ihr seltsam vorkam. Die Luft war anders, die Geräusche waren so laut, die Farben wirkten ungemein grell – für einen kurzen Moment wünschte sie sich wieder in die falsch wirkende jedoch ruhige Welt zurück, in der sie eben noch gewesen war. Sie spürte wie ihr Herz heftig gegen die Rippen schlug, ihr Atem schneller ging. Und irgendwie war da viel zu viel in ihrem Kopf. Gedanken, Erinnerungen, Momente, Erfahrungen. Sie spürte, wie all diese verschiedenen Emotionen und Momenten in ihrem Kopf Wellen schlugen, sich stapelten, sich ihr aufdrängten. Wo waren die alle gewesen, als sie gefühlte Ewigkeiten durch die Landschaft dem Vogel gefolgt war?

„Was… Irgendwas stimmt nicht!“ murmelte sie.

Sie stand noch immer schwer atmend und mit allen Gefühlen, Geräuschen und Farben kämpfend da, die Hände festgehalten von dem Bekannten. Sie hörte Menschen sprechen, Lärm, der an ihre Ohren schwappte, aber nicht durchkam. Langsam aber sicher schloss sich ihr Bewusstsein, das Herzklopfen wurde lauter, die Welt dunkler.

„Sie hat einen Schock.“ hörte sie eine Stimme sagen.

„Na, kein Wunder. Wie lang war sie da jetzt drüben?“

„Verdammt noch mal zu lange.“

„Ey, Gabs. Bring sie hier rüber, wir müssen sie überprüfen. Todsünde hin oder her, aber sie war zu lang drüben.“

Sie spürte, wie sie flog, ein Fiepen in den Ohren, ein Busunfall in der Erinnerung, ein Gefühl der Übelkeit im Magen.

„Ob sie eine Ahnung hat?“

„Wer weiß, die meisten Todsünden, die entführt werden, haben kein Wissen darüber.“

„Mann…“ jemand pfiff. „Die hier wird ausrasten, wenn sie ihren alten Körper sieht!“

„Gabs…“ seufzte jemand.

„Schon verstanden. Komm Marat, lass uns gehen.“

Sie hörte gedämpftes Gemurmel, spürte eine Hand auf ihrer Stirn und hatte das Gefühl, dass ihr Herz in Kürze ein Stepptanz-Solo auf und nicht in ihrer Brust absolvieren würde.

„Alles gut, schlaf erst mal ein bisschen. Das haut den Stärksten um, glaub mir. Übrigens: Willkommen auf Djanna.“

„Und? Ausgeschlafen?“

Das Gesicht, das nur wenige Zentimeter von Sahars Gesicht entfernt war, war erst ein verschwommener Schemen, bis sich ihre Augen an das Licht und das Wachsein gewöhnt hatten. Sie blinzelte ein paar Mal, bis ihr Kopf den Überraschungsmoment verstand und sie ruckartig aufschrecken ließ.

Ihr Gegenüber lachte erfreut, als wär das genau die Reaktion gewesen, die man erwartet hätte. Als Sahar versuchte die richtige Frage zu stellen, die garnicht so einfach auszumachen war, das es doch einiges zur Auswahl gab, kam ihr Gegenüber ihr zuvor.

„Keine Sorge, alle Fragen können im Detail später beantwortet werden. Ich bin Marat, ein Halbelement. Du, äußerst verwirrt dreinblickendes Ding, bist Sahar und dank unserer Rettungsaktion – nun ja – gerettet.“

Sahar blickte sie an. Mahar wirkte mit ihrer zarten Gestalt eines Teenagers wie ein kleiner erwachsener Mensch, ihr weißes Haar stand im harten Kontrast zu den rötlichen Augen, die unecht wirkten und sie neugierig begutachteten.

Während Sahar sich langsam daran machte, ihre Beine über die Bettkante zu schieben und ihre Gedanken zu sortieren, erzählte Mahar weiter.

„Als du in Djanna ankamst, hattest du einen Schock. Das ist aber normal, denn ganz ehrlich überlebt eigentlich fast niemand da unten.“ Sie pausierte und überlegte kurz. „Okay, wirklich niemand überlebt das. Aber du bist die Ausnahme!“ sie klatschte Sahar spielerisch auf das Bein. „Und genau das hatten wir gehofft, als wir gemerkt hatten, dass deine Rettungsaktion von Sean nach hinten los gegangen ist und Macinus dich erwischt hatte.“

„Rettungsaktion von wem?“ fragte Sahar nach und fuhr sich durch‘s Gesicht. Sie hatte Durst und warf einen kurzen Blick in den Raum, in dem sie lag.

„Einen Moment!“ rief Mahar und sprang leichtfüßig auf, tänzelte fast zu einem Tisch und goß ein Glas voller Wasser ein. Als sie ihr das Glas reichte meinte sie nur: „Ich kann Emotionen und Bedürfnisse lesen. Halbelement eben.“

Nicht sicher, ob sie gratulieren sollte oder ein erstauntes „Oooh“ von sich geben musste, nahm Sahar einfach das Glas, sagte „Danke“ und trank.

„Du hast wirklich keine Ahnung, was?“ fragte Mahar dann nach einer kurzen Pause und musterte sie prüfend. Mehr als den Kopf schütteln konnte Sahar nicht, sie musste eigentlich noch immer all die Puzzlestückchen der letzten Ereignisse zusammen fügen und verstehen. Wenn es denn überhaupt etwas zu verstehen gab.

„Dann gibt es erst einmal eine Rundführung!“

Djanna. Das war auch das gewesen, was der unbekannte Mann ihr gesagt hatte, als sie durch den Schock erst einmal kollabiert war. Ganz klasse Einstieg dachte sich Sahar. Langsam aber sicher merkte sie, dass sie weder in einer der Halluzinationsträume ihrer selbst war, noch dass sie „normal“ träumte oder tot war. Nun, zumindest nicht richtig tot. Sie hatte erfahren, dass sie bei dem Busunfall, bei dem auch Sean anwesend gewesen war, ihren Körper verloren hatte. Also ihren normalen Körper aus Fleisch und Blut und Knochen und den sogenannten Bhannar-Begrenzungen. Denn was sie als Zuhause, als Erde und als die einzig wahre Welt verstanden hatte, hieß Bhannar.

„Es ist eigentlich ganz einfach.“ erklärte Mahar, die aber gerne Ma‘r genannt wurde. Während sie durch helle Flure gingen, die von Sonnenlicht und Sommerluft durchflutet wurden, erzählte Ma‘r alles, was Sahar wissen wollte. Die Flure wechselten sich ab mit unzähligen kleinen Stufen, die hinauf oder hinab führten, vorbei an geschäftigen Straßen, kleinen Gassen, lärmenden Plätzen, die sie jedoch umrundeten und grüne kleine Parkanlagen, die wie Oasen der Ruhe und Schatten wirkten, bevorzugten. Sie lernte so die südliche Hauptstadt Djannas kennen: Mesembria. Eine Stadt, die voller verschachtelter Straßen, Gebäude und viel Grün bestand. Wenn Sahar hier alleine unterwegs wäre, würde sie sich innerhalb weniger Minuten verlaufen. Es ging etliche Stockwerke nach oben, aber auch nach unten. Mal breite Straßen, mal kleine gewundene Wege, gelegentlich stand sie hoch oben und blickte auf einen Wasserfall der sich von einer hohen grünen Dachkappe sich in die Tiefe stürzte, vorbei an steineren Treppen, entlang an von Sonnenlicht erhellten Flecken. Manchmal gab es Sonnenbrecher, wie Ma‘r es ihr erklärte. Sonne wurde über etliche kleine Steine gesammelt und in alle Richtungen ausgesandt. Zuerst dachte Sahar, dass es sich um einfache Spiegel handelte, jedoch waren die Steine durchsichtig und gaben das Licht nicht nur weiter, sondern vergrößerten den Lichtkegel. So wurde dafür gesorgt, dass Mesembria hell und sonnig blieb, durch die hellen Steingebäude blendete die Stadt das ungewohnte Auge fast. Das Ausmaß der Stadt konnte Sahar nur schätzen, denn sie waren nicht im Zentrum gestartet, sondern etwas östlicher. Wenn alle Städte hier in dieser Welt so waren, dann gäbe es einiges zu entdecken, dachte Sahar, als sie Ma‘r folgend durch die Stadt ging.

„Es gibt drei Welten: Djanna, Barzach und Djahannam. In deiner Welt, in der du aufgewachsen und vielleicht auch geboren wurdest, heißt es quasi Himmel und Hölle. Und natürlich ist die Erde das Hier und Jetzt, erst im Tod wird man dann aufgrund der Taten entweder dem Himmel oder der Hölle zugeteilt. Ein simpler Sortierungsmechanismus, der manchmal funktioniert, aber eben sehr häufig auch nicht.“

Sie gingen durch ein helles steinernes Tor, das von verschnörkelten Figuren verschönert war. Im Detail stellten sich diese Figuren als Symbole dar, die Ähnlichkeiten mit einer Sonne oder einem Stern hatten. Dahinter warteten hölzerne Stufen, eingelassen in die Erde auf sie, die durch den schattigen Wald führten – beständig leicht bergauf. Eine sanfte Brise schaukelte die Baumwipfel, Vögelgezwitscher, das Sahar vertraut und gleichzeitig sehr fremd in den Ohren klang hallte im Wald wider. Das Rauschen der Stadt wurde allmählich leiser, der Wald lauter und Sahar füllte sich etwas wohler.

„Diese Welt ist Djanna, ihr würdet dazu wohl Himmel sagen. Und wir, wir würden lachen“ sie lachte kurz „und sagen, dass das euer ausgemacht Unsinn ist, weil ihr nicht mehr wissen dürft.“

„Wir dürfen nicht?“ fragte Sahar überrascht. Sie konnte sich das Bild schon vorstellen, verstand aber nicht, warum die eine Interpretation falsch und die andere richtig. Vielleicht war es genau das Gegenteil? Und sie dürfte eigentlich abschätzig lachen?

„Nun, es ist so. Die Unterteilung in diese drei Welten hat einen klaren Sinn. Einerseits gibt es den Himmel, die normale Welt, in der wir zusammen leben und rechtschaffende Ordnung einhalten. Zumindest ist das unser Ziel. In Bhannar, was die Hölle vom Himmel trennt, leben alle möglichen Lebenwesen unter einem Deckmantel des normalen Alltags, des normalen Lebens. Man ist Mensch, lebt nur in absoluten Glücksfällen bis zu 100 Jahre und kommt nach dem Leben entweder in den Himmel oder in die Hölle. Es ist ganz offen gesagt ein Trick, den man dort lebt.“

Das alles klang für Sahar seltsam falsch und gnadenlos. „Und warum kommt man auf die Erde oder eben nach Bhannar? Gibt es dafür so eine Art Urteil?“

„Ja und nein.“ erklärte Ma‘r. Auf Sahars verwirrten Blick hin zuckte sie mit den Schulter und ihre weißen Haare tanzten. „Es ist verdammt kompliziert es so einfach mal zu erklären. Wenn man es ganz grob zusammen fassen möchte, was ich jetzt nur für dich tue“ sie zwinkerte „Dann kann man sagen, dass Bhannar kleinere Verbrechen, Rachefamilien, Dauersünder, Regierungsfeinden und verwirrten Lebewesen zugeordnet wird. Der Vorteil ist, dass man sich, wenn man einmal eingegliedert wurde, an nichts mehr erinnern kann. So funktioniert das System, denn sonst würde in Bhannar absolutes Chaos und Verwüstung herrschen. Es soll geregelt, sicher, beruhigend und abgeschlossen als eine Welt für diejenigen gelten, die sich nicht den Regeln beugen können, wollen oder dürfen. Eine gute Lösung, die sich seit Jahrhunderten bewiesen hat.“

Trotzdem – für Sahar klang es falsch. Man nimmt diejenigen, die warum auch immer den Regeln nicht gehorchen und steckt sie in eine Welt, die als Auffangbecken fungiert. Eine tolle Sache, vor allem, wenn man sich an nichts mehr erinnert. Sie war sich sicher, dass den meisten mehr geholfen war, wenn sie wüssten, was sie getan hatten, um abgesondert in einer überwachten Welt zu landen.

Ma‘r betrachtete Sahar, wie sie ihren Gedanken nach hing.

„Keine Sorge, jeder denkt zuerst wie du. Und die meisten Bedenken werden auch nicht schnell verschwinden. Aber glaub mir, wenn ich dir sage: eine andere Lösung gibt es nicht. Du wirst bald merken, warum das so ist. Trotzdem darfst du gerne und jederzeit unser Handeln kritisieren, schließlich warst du ja selbst auf Bhannar. Und das auch noch freiwillig. Also… mehr oder weniger.“

Mehr oder weniger. Für Sahar war das Thema sowieso bei weitem noch nicht verständlich genug erklärt worden. Sie wusste zwar, dass sie eigentlich aus Djanna stammte, aber aus unterschiedlichen Gründen wohl nach Bhannar gelangte und dort aufgewachsen ist. Warum sie dort hin verschwand war zumindest Ma‘r noch nicht ganz klar gewesen. Aber Sahar hatte das seltsame Gefühl, dass sie nicht die einzige war, die nicht ganz wusste warum sie in dieser Zwischenwelt gelandet war. Man nahm an, dass sie aus verschiedenen Gründen als Kleinkind in die Zwischenwelt gebraucht worden war, aber das wär nicht so einfach gewesen – irgendjemand hätte davon auf jeden Fall Wind bekommen. Als Sahar fragte, warum das so sei, meinte Ma‘r nur, dass man nicht einfach so ein- und ausgehen konnte in Bhannar. Es gab klare Regeln, die zu beachten waren. So würde dann auch sicher gestellt werden, dass das Gedächtnis beseitigt oder bereinigt wurde, um ein problemloses und sozusagen menschliches Leben führen zu können. Das war der Schlüssel zur sicheren Welt und nur deswegen gäbe es Bhannar, die Zwischenwelt.

Und zum Aufräumen der nicht unliebsamen Störenfriede, dachte Sahar ironisch. Kein Wunder, dass sich viele dort missplatziert, unverstanden oder krank fühlten. Aber wie immer gab es auch da unzählige Möglichkeiten, um das in Schach zu halten.

Ma‘r schmunzelte. „Wie gesagt, ich verstehe deinen Unmut – vor allem, weil du selbst es am eigenen Leib erfahren hast und dich jetzt ungemein falsch behandelt fühl musst. Aber du wirst es noch besser verstehen, wenn du siehst, wie es funktioniert.“

Ein verwirrter Blick von Sahar ließ Ma‘r die Schultern zucken. „Wie gesagt: ich bin ein Halbelement und kann Emotionen lesen. Und deine, liebe Sahar, stehen dir milde ausgedrückt auf die Stirn geschrieben.“

Sie erreichten nach einigen Minuten das Ende des gemählichen Anstiegs, der sie durch den schattigen Wald, vorbei an Wildblumen und entfernt plätschernden Bächen geführt hatte.

„Sind wir jetzt ausserhalb von Mesembria?“ fragte Sahar.

„Ja, so ungefähr. Diese Wälder sind Teil von der Stadt, aber eben keine Wohnviertel oder andere Gebäude. Sieh es als Stadtteil für Nicht-Menschen an.“

„Nicht-Menschen?“

„Genau, Elemente, Halbelemente und all die Lebewesen, die in Wäldern, Bächen und Wiesen zu Hause sind. Das ist auch Teil der südlichen Hauptstadt, dafür braucht es aber keine Häuser wie die Menschen sie benötigen.“

„Wir finden Häuser aus Stein beengend und einfach nicht bequem.“ hörte Sahar eine Stimme, fast singend, fast wispernd sagen. Sie blickte sich um, um die Sprecherin zu sehen, konnte aber niemanden sehen.

„Wer…“ fing sie an, doch Ma‘r lachte nur und die säuselnde Stimme stimmte mit ein. Eine Form nahm Gestalt an, nicht größer als Sahars Unterarm. Mehr eine Ahnung als ein fester Körper.

„Wir sind Windelfen, du siehst uns nie, du hörst uns aber. Wenn wir wollen können wir durch den Wind Gestalten formen, aber das ist nur belastend. Nicht frei, nicht leicht…“ die Ahnung der Gestalt verschwamm und ein seichter Wind zerzauste Sahar das Haar. „Manche können uns sehen, manche haben die Gabe. Aber dafür muss man den Clans angehören oder eben sein wie du. Auch wenn man das nicht selbst bestimmen kann.“ Die Stimme lachte und wurde wispernder. „Bis auf bald, Sahar, Todsünde aus Bhannar.“ Und leise singend verstummte die Stimme im Wind des Waldes, die Vögelstimmen wurden wieder das einzige, das den Wald mit Geräuschen erfüllten.

„Aha.“ sagte Sahar platt und sah Ma‘r an, die mit den Augen rollte.

„Gottverdammte Windelfen, wissen alles, tun so als ginge sie nie etwas an und plappern zuviel aus.“

„Was meinte die mit…“ fing Sahar an, einerseits überlegend, ob sie das Thema, dass es tatsächlich Windelfen geschweige denn Elfen hier gäbe ansprechen sollte, oder das Thema der Bezeichnung von ihr selbst als Todsünde. Aber vielleicht war sie ja noch auf irgendwelchen Drogen und bildete sich das ein. Oder vielleicht war sie auch tot?

„Wir sind gleich da, dann können wir das in Ruhe besprechen. An die ganzen Lebewesen hier wirst du dich aber sowieso gewöhnen müssen.“

Sie standen auf einer Lichtung, die von Laternen gesäumt war und zu einem alten asiatisch wirkenden Tempel führte, der in einen Baum hineingearbeitet zu sein schien. Mehrere Stockwerke hoch ging dieser hölzerne Tempel und die oberen Stockewerke strahlten im Sonnenlicht. Glitzernde Sonnenflecken tanzten auf der Lichtung und der steinerne, breite Weg führte an Blumenwiesen und Hortensienbüschen vorbei auf den Tempel zu. Sie waren nicht die einzigen Gäste, es saßen ein paar Menschen und andere Lebewesen auf der linken Seite des Hauses im lauwarmen Halbschatten, teilweise unter beigen Schirmen, teilweise unter dem Schatten der Bäume. Es gab kleine Tische, an denen die Gäste tranken und aßen. Sahar verstand, dass es wohl ein Café in dem riesigen tempelähnlichen Gebäude geben musste. Ein angenehmes Lärmen ergänzte das Rauschen des Waldes, das plötzlich lauter wurde.

„Schau Sahar, Golddrachen!“ Ma‘r deutete überrascht gen Himmel, der im Blau, gespickt mit weißen und pastelligen Wolkenfetzen über ihnen ragte. Langgezogene, glänzende und das Sonnenlicht reflektierende Leiber schlängelten sich über den Himmel, spielten mit einander. Sie wirkten elegant, wie unechte Fabelwesen, die man sich an heißen Sommertagen erträumte. Das Leuchten und Glitzern verwandelte sie zusätzlich in Wesen voller Eleganz. Ohne Eile tanzten sie am Himmel entlang und verschwanden leise brausend wieder hinter den Bäumen.

Sahars Herz pochte leise.

„Waren das echte Drachen?“ fragte sie begeistert. Ma‘r nickte, während sie wieder auf dem Weg zum Gebäude spazierten. Das Brummen der Bienen begleitete sie auf dem Weg. „Golddrachen sind eine seltene Art, sie leben entfernt von der Gesellschaft, sind aber mitunter die klügsten Wesen, die es gibt. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund und ihre Wahrsagungen sind immer richtig. Immer.“

„Wow. Golddrachen!“ murmelte Sahar und konnte nicht wirklich glauben, dass sie echt waren – auch wenn sie gerade eben jene Golddrachen mit eigenen Augen gesehen hatte. Alles was sie selbst erlebte war so echt und real, wie ihr Leben bisher. Sie war wach und das hier war echt. Nur hatte sie noch immer keine Ahnung weshalb sie hier war.

Er war so nervös wie schon lange nicht mehr. Mindestens auch so wütend. Sean hatte eine Nachricht erhalten, die nur „Sie ist bei uns“ lautete. Er hatte sich ungemein zusammen reißen müssen, nicht sofort aufzuspringen und loszueilen. Er musste nachdenken und seine nächsten Schritte vorsichtig planen. Und vor allem musste er dafür sorgen, dass Agnoris davon nicht Wind bekam. Das bedeutete allerdings, dass er sich alleine auf den Weg machen musste. Letztes Mal hatte jemand geplappert, zuviel erzählt oder auch nur einen kleinen Hinweis gegeben. Das hatte ihm jetzt das Misstrauen von Agnoris eingebracht, etwas, auf das er verdammt gut hätte verzichten können. Das stellte deswegen schon mal Nummer zwei auf seiner To-Do-Liste dar: demjenigen, der ihn verraten hatte, das Leben zur Hölle zu machen. Und ihm dann die Eingeweide bei lebendigem Leib heraus zu reißen, mieses Verräterschwein.

Sean packte deswegen, kaum dass er einen Plan entwickelt hatte, seine wichtigsten Dinge zusammen. Als Clanmitglied trug er nie viel, das einzige was man mit sich trug waren die Clankräfte, welche auch unterwegs für Kleidung und Nahrung sorgen würden. Es war oberste Regel, dass Clanmitglieder überall mit offenen Armen zu empfangen waren. Eine der Regeln, die Agnoris ins Leben gerufen und seine lächerliche Klassifzierung von Djanna gestartet hatte. Auch wenn Sean es nicht zugeben wollte, fand er diese Regelung jetzt gerade sehr hilfreich. Aber er packte dennoch, denn genau das wollte er eben vermeiden: sich selbst als Sean von Dysis auszugeben und damit Agnoris armwedelnd auf ihn aufmerksam zu machen. Alternativ könnte er dann auch gleich einen Brief mit den Worten „Geliebter Agnoris, ich bin in Mesembria“ hier lassen.

Sean schüttelte den Kopf bei dem Gedanken daran, dass Agnoris ihn erwischte, aber ihm blieb nichts anderes über.

Er zog sich seinen Gehrock über und steckte beide Wakizashi ein. Jedes Clanmitglied trug zwei dieser Kurzschwerter, es war die Kunst des Clans von Dysis, eine Kampfkunst die auch Sean erlernte, als Agnoris ihn als Kleinkind aufnahm. Er hoffte gerade jedoch seine Kampfkunst nicht einsetzen zu müssen.

Sein Plan war einfach, aber mindestens genauso riskant. Er hatte sich aus einem der vielen lokalen Magiergeschäfte fünf Momentgranaten holen lassen. Simple kleine Granaten, die nicht explodierten, sondern nach Entsichern eine Momentsperre auslösen. Das bedeutet, dass lebendige Lebewesen in einem Moment von 3 Sekunden eingesperrt sind – die Zeit an sich fließt weiter, ermöglicht aber so Gegnern oder Dieben recht einfach entsprechende Handlungen durchzuführen. Sean hatte sich 5 dieser Bomben gesichert, sodass ihm 15 Sekunden insgesamt blieben.

Die Spheren-Aktivierung dauert drei Sekunden, seine komplette Dematerialisierung vier Sekunden. Er sollte es zeitlich hinkriegen, solang er nur unerkannt zum Spheren-Portal kam. Aber es zählte auch jetzt schon jede Sekunde, daher stülpte er den Kragen hoch, um die Tätowierungen am Haar und Hals zu verstecken. Diese wiesen ihn als Todsünden-Wächter aus. Noch ein Laster mehr, das er mit sich rumschleppen durfte. Und noch ein Grund mehr, warum er nach Mesembria gelangen musste zu diesem Mädchen.

Der Weg durch die Stadt war nicht einfach: Dysis war als westliche Hauptstadt gemäß den Rängen aufgebaut, sodass es verschiedene Stadtbezirke gab, die sich alle gen Mittelpunkt der Hauptstadt verbesserten. In der Mitte der Stadt, geschützt von einem Pinienwald-Streifen, wuchs das Dysis-Imperium in die Höhe. Eine Ansammlung gewaltiger Gebäude, mit Pagoden, kleinen Parkanlagen und Wohnanlagen versehen. Und im Zentrum des ersten Untergeschosses war das Spheren-Portal.

Im Pinienwald duftete die Luft würzig und warm, trotzdem konnte er entfernt den Duft des Meeres erahnen. Heute wehte ein starker Wind vom Meer in die Stadt und erfrischte somit die Bewohner. Sean liebte diesen Duft und wünschte sich wie immer, dass die Stadt noch näher am Meer war. Oder zumindest seine Wohnung in Dysis selbst.

Lautlos schlich er sich durch die Schatten der Bäume, jenseits der Wege, die durch den Waldstreifen führten. Als der Wald sich lichtete und einem der sechzehn Tore Platz machte, überprüfte er nervös die Lage: es waren zuviel Menschen unterwegs. Viele gingen aus dem Tor hinaus, aber auch einige hinein. Es war später Nachmittag und viele gingen in die kleineren Stadtbezirke, um dort bei gutem lokalen Essen und Pinienlikör die Zeit zu genießen.

Mist, verdammter. Sean hatte ein loses Mundwerk, welches sich durch die Erziehung von Agnoris nur teilweise gebessert hatte. Aber er war noch nie besonders gut gewesen auf jemand anderen zu hören, wenn es um ihn ging oder wie er zu sein hatte.

„Scheiße…“ fluchte er wieder leise und griff in eine der Taschen. Er hatte eine der Gestaltenkapseln dabei, eine der guten. Sie machten genau das, nach was sie sich anhörten: sie ließen einen die Gestalt für eine begrenzte Zeit wechseln. Aber er hatte darauf geachtet, sie nicht anfertigen zu lassen, da man sonst nach ihm Ausschau halten könnte. Jedoch war die Qualität so hochwertig, dass die Dysis-Seher nicht auf ihn aufmerksam werden sollten. Wer so oberflächliche Magie verwendet, wie sie gerne zu Spaß und Unterhaltung verwendet wird, hat meistens nichts zu verbergen. Sodass Dysis-Seher diese magischen Spielereien erkennen und analysieren können – sie können ausmachen, wer sich dahinter verbirgt und die Formel zersetzen. Deswegen war es Seans wichtigstes Ziel, dass man nicht merkt, dass er überhaupt Magie anwendet.

Die Uhr tickte und Sean blieb nichts anderes übrig, als zähneknirschend die Kapsel einzuwerfen. Nach nur wenigen Sekunden spürte er schmerzhaftes Ziehen und Zerren im Gesicht und er musste die Zähne zusammen beißen, um nicht aufzustöhnen. Es war als würden gleichzeitig gezogen, gezerrt, gedrückt, geschlagen und gerissen werden. Erst als es nachließ öffnete er wieder die Augen und befühlte sein Gesicht. Faltig, Reißzähne, lange Haare – na prima. Er war ein Senioren-Werwolf in Menschsform. Er packte einen Umhang aus seiner kleinen Umhängetasche, dafür hatte er gesorgt. Mit seiner Clan-Uniform würde er zu sehr auffallen. Er warf sich den dunkelgrünen Umhang um, schlug die Kapuze über und passte sich seiner Gestalt an. Da er alt war und sich einmal im Monat selbst einweisen musste, um anderen Kontrolle über seine Verwandlung zu geben, nahm er an, dass er leicht gebückt ging, missmutig drein blickte, aber dem Schicksal voll und ganz ergeben. Nicht, dass am Ende sich die Soldaten mit einem heisernen „Ein verdächtiger Massenmörder!“ auf ihn warfen. Nein, das wäre äußerst dummes Timing.

Der Umhang ging bis auf den Boden, so war auch der Rest der Uniform gut versteckt. Vorsichtig und sein Herzschlag beruhigend ging er auf das Tor zu, auf die Dysis-Seher zu, die immer zu zweit an den Toren positioniert waren.

Rasch blickte er gen Boden, dann missmutig umher – und passierte sie. Sein Herz hatte er im Griff, aber der Schweiß rann ihm den Rücken entlang. Noch war er nicht durch, noch konnte was schief gehen. Und prompt rief einer der Dysis-Seher „Hey, Werwolf – einen Moment.“

Mist, verfluchter, dachte Sean und schluckte, drehte sich um und knurrte ein gedehntes „Jaaa?“ dem Seher entgegen.

„Du hast magische Artifakte in deiner Tasche. Ich muss die sehen, sonst kann ich dich nicht einlassen.“

Aaaah, verdammte Kacke! Die Momentgranaten hatte er völlig unterschätzt, Dysis-Seher überprüfen auch Lieferungen und Gepäck auf magische Artefakte und Gegenstände. Eine der neuen Regelungen von Agnoris, um noch mehr Sicherheit zu gewährleisten. Deswegen hatte er die Dysis-Seher auch mit magieverstärkenden Runen versehen. Etwas, das bis dahin niemand gewagt hatte und auch jetzt noch Wissenden Gänsehaut bereitete. Er formte sich neue Soldaten.

Sean schluckte wieder. Was sollte er tun? Er zögerte und blickte sich um, es gingen noch immer Leute ein und aus, es gäbe zuviele Zeugen. Andererseits könnte er auch eine Momentgranate rausholen und sie zünden, aber das würde wohl auch die anderen Dysis-Seher in Alarmbereitschaft versetzten und im schlimmsten Fall könnte das Spheren-Portal gesperrt werden, bis die Situation geklärt würde.

„Ich ähm… ich weiß nicht, was ihr meint…“ stotterte er, um Zeit zum Denken zu gewinnen.

„Eure Tasche, dort befinden sich Artifakte magischer Herkunft.“ erklärte der Seher und deutete auf die versteckte Tasche unter seinem Mantel. „Zeig mir, was du bei dir trägst und ich lasse dich gehen.“

Ich glaube nicht, dass du mich gehen lassen würdest, dachte Sean grimmig und überlegte fieberhaft. Er merkte, dass auch die Wächter auf ihn aufmerksam wurden.

„Es ist nichts, wirklich. Nur magische Kräuter um die Mondphasen besser zu durchstehen.“ log er einfach drauf los. „Ihr wisst ja nicht wie das ist, wenn man älter wird und jeden Monat einmal da durch muss.“ er lächelte Verständnis fordernd und entschuldigend. „Nicht die schönste Zeit.“

„Alter Mann, ich verstehe, dass du das nicht mit schlechten Absichten mit dir rumträgst. Aber ich muss sehen was es ist. Solltest du dich weiterhin weigern, muss ich dir den Eintritt versagen und einen Haftbefehl aussprechen lassen.“

Ja klar, nur mit deinen dämlichen Runen machst du hier einen auf dicke Hose, du Vollidot von Seher. Kack Situation, verdammte Axt.

Und gerade, als er sich entschieden hatte das alles auf die harte Tour zu versuchen, spürte er eine Hand an seinem Arm und zuckte zusammen.

„Dich hab ich ewig gesucht, was bist du denn so schnell so weit gekommen?“ keuchte ein junges Mädchen, dessen honigfarbene Augen ihn vorwurfsvoll anblickten. Ihre sinnlichen Lippen, ihr langes goldbraunes Haar lockte sich gespielt um ihr schönes Gesicht und ihre Wangen waren leicht gerötet. Wahrscheinlich vom Aufholen. Sean musste nur einmal hinblicken, um zu wissen, dass es sich bei der jungen Frau um eine absolute Schönheit und eine Blutmagierin handelte. Eine Mischung zwischen Blutelfe und Magiermensch, die nicht nur sehr selten waren sondern auch sehr rebellisch und daher vor hunderten von Jahren bei  einem der 7 Clanrebellionen beinahe ausgelöscht worden waren. Beinahe jedoch.

„Was…“ brachte er nur hervor, denn er kannte sie nicht und wusste nicht, ob er das Gesicht von einem für sie vertrauten Menschen trug. Aaaah, das wurde immer komplizierter.

„Wir wollten doch gemeinsam dem wunderbaren Dysis-Imperium einen Besuch abstatten.“ meinte sie mit einer singenden und warmen Stimme. Sean merkte, dass auch den Sehern und der Wache ihr Auftritt nicht entging.

„Meine Herren, es tut mir so leid, dass mein Bekannter Ihnen solche Schwierigkeiten gemacht hat. Aber manchmal ist er einfach nur verwirrt.“ sie lächelte so süß und schön, dass einer der Seher ein dümmliches Lachen von sich gab.

Der war hinüber, dachte Sean.

„Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass er wirklich nur seine alte und wirklich nicht besonders gut riechende Medizin mit sich rum trägt. Ich würde Ihnen nur sehr ungern etwas so Übelriechendes vor die Nase halten müssen, verstehen Sie? Ich mache mir nur Sorgen um Sie, die Sie Ihre Arbeit fleißig und so talentiert nachgehen.“ Tiefe Blicke, warme Stimme, etwas Zwinkern und es war geschafft.

Mit offenen Mund starrten die Seher ihnen nach, die Wache winkte stupide lächelnd und alle vier hatten die ein oder andere noch unbemerkte Beule unter ihrer Uniform.

Sean musste grinsen, als sie an ihnen vorbei gingen. Die bildhübsche Blutmagierin an seinem Arm und der Wache noch zuwinkend.

Als sie um die Ecke kehrten, hörte sie mit dem Winken auf und ihr Gesicht wurde ernst. Dennoch wechselten sie kein Wort miteinander, denn es gab viel zu viel Wachen auch hier noch und Passanten, als dass sie ungestört miteinander hätten reden können. Der Druck an seinem Arm verstärkte sich plötzlich und er spürte, dass die Gestaltenkapsel nachließ, sein Gesicht wurde wieder zu seinem.

Rasch beschleunigte er die Schritte, zum Treppenabgang des Portals zu gelangen, das nur den Clanmitgliedern bekannt war. Die junge Unbekannte hielt Schritt und sprach nichts, sie hatte verstanden, dass er aus der Masse raus wollte und einen Plan hatte. Also, zumindest eine Art Plan. Denn sie hatte ihm gerade die Haut gerettet und sie war alles andere als Teil seines Plans gewesen.

Als sie vor einem dunkleren Teil einer Gasse standen, in dem die Lichter absichtlich weniger gestreut waren als sonst im hell erleuchteten Teil des Imperiums, blickte sich Sean um. Keiner da, also jetzt oder nie. Vor ihm lag ein Torbogen, der in die von Meeresduft getränkte Luft führte – ins Nichts sozusagen. Unwissende würden sich vielleicht kurz beschweren, warum es hier kein Geländer gäbe, aber hier hinten hatte niemand etwas zu suchen, der nicht genau wusste, was einen hier erwartete. Vor ihnen lag das Grün der Bäume und entfernt die äußeren Stadtbezirke und der pastelfarbene Himmel, erstrahlt von Sonnenlicht.

Mit einem kurzen Seitenblick hatte er auch schon entschieden, dass es jetzt eine gute Idee war die Blutmagierin los zu werden. Allgemein könnte das ein verdammt schwieriges Unterfangen werden, denn offenbar hatte sie sich ganz bewusst Sean ausgesucht. Er seufzte innerlich und machte mit der Blutmagierin einen Schritt ins Nichts, nur um darauf auf der anderen Seite eines Gangs heraus zu kommen. Vor ihnen lag eine Treppe, die nach unten führte und das Licht eleminierte alle Schatten, die es in diesem breiten Gang hätte geben können. Hier stand keine Wache, denn nur Clanmitglieder kannten diesen Weg, um schneller zum Spheren-Portal zu gelangen und kein Aufsehen zu erregen, sollte es mal ernst werden.

Sofort ließ die Blutmagierin von seinem Arm ab und stellte sich vor ihm auf, blickte ihn ernst an.

„Ich komme mit.“

„Was?“ stieß Sean hervor, überrascht und genervt von ihrem Gehabe. Er hatte keine Zeit für eine Blutmagierin Aufpasser zu spielen oder wegen ihr sein ganzes Vorhaben in den Sand zu setzen.

„Ich sagte, ich komme mit.“ wiederholte sie bestimmt.

„Okay, Prinzessin. Hör mal zu. Ich hab jetzt keine Zeit, um mit dir zu streiten oder dir zu erklären, dass du nicht immer das bekommst was du möchtest. Aber ich muss los und zwar ohne dich.“ fuhr er sie leise zischend an, denn er wollte nicht, dass eventuell etwas von ihren Worten nach unten drangen und den Überraschungsmoment vollkommen ruinierten. Gott, diese Mission war ein absoluter Reinfall, dachte er sich wütend.

„Wenn du mich nicht mitnimmst, dann verpetze ich dich.“ setzte sie ihm vor und lächelte fies. „Und zwar jetzt sofort, sodass du wahrscheinlich nicht mal weg kommst.“

„Und was willst du wem auch immer sagen, hm? Dass du selbst die Seher und Wächter angelogen hast, um dir einen Ausweg zu verschaffen? Weil du selbst abhauen wolltest? Dir glaubt niemand!“ langsam wurde Sean wütend.

„Ein unschuldiges kleines Ding wie ich, moment, wie nanntest du mich gleich nochmal? Prinzessin! Eine unschuldige kleine Prinzessin wie ich würde doch nie etwas gegen ihren Willen tun, da hat der böse böse Sean sicher alle Schuld zu tragen. Vor allem weil er ja bekannt ist sich dem Willen von seinem liebsten Ziehvater Agnoris zu widersetzen. Und wenn ich dann noch ein bisschen nachhelfe, dann glauben sie mir auch, dass du eine Rebellion planst – für Agnoris wird das sicher eine ganz schlimme Enttäuschung sein. Aber moment,“ sie lachte auf „das bist du doch schon längst!“

Sean fehlten die Worte. Was um alles in der Welt hatte er sich mit ihr denn eingefangen? Er starrte sie sprachlos an und wusste nicht ganz genau, mit welchem Informationsfetzen er zuerst arbeiten sollte. Oder was er zuerst ansprechen sollte, denn wer auch immer sie war, sie wusste verdammt nochmal viel zu viel.

„Du…“ fing er an, hatte aber nicht wirklich eine Ahnung, wie er weitermachen sollte.

„Ich…“ half sie ihm spielerisch auf die Sprünge. „… weiß alles über dich was man so wissen kann. Nicht freiwillig jedoch.“ setzte sie nach und zwinkerte.

„Woher?“ knurrte Sean.

„Ich hab dich die letzten Jahre beschattet, ausspioniert und ausgehorcht. Ich hab für Agnoris deinen zweiten Schatten gespielt. Und jetzt möchte ich gerne von hier verschwinden und du wirst mir dabei helfen.“

Sie lächelte und Sean hatte das Gefühl, dass er gerade seiner ganz persönlichen Todesgöttin begegnet war.

Das Zimmer, das Sahar zugewiesen wurde, was geräumig und hatte eine breite Fensterfront, die auf einen Balkon führte. Zur Hälfte lag ihre Sicht bedeckt vom Grün des Baumes, in den das tempelähnliche Gebäude gebaut war und die andere Hälfte gab den Blick frei auf die Stadt, die Lichter in der dunklen Abenddämmerung. Sie hatte gehört, dass in diese Richtung entfernt die Wüstenwälder lagen: Wüsten und unterirdische Wälder aus toten Holz, kristallisiertem Sand, Knochen. Die Wüste war gefährlich und meist tödlich, denn sogar nah an der Grenze gab es aktive Sandflieger. Rochenähnliche Lebewesen, die  bis zu 50 Meter groß wurden und durch die Wüste tauchten wie Delphine, alles zermalmend was sich in ihren Weg stellte. Vor allem war es deswegen so gefährlich, da diese Sandflieger nur in Rudeln auftraten. Es gab Hochzeiten, zu denen sie unterwegs waren und in bestimmte Richtungen reisten, aber nur die Alten von Mesembria wussten davon und von den Stämmen, die dort lebten – oder eben nicht. Es war ein Gebiet, das als existent angesehen wurde, aber auf keiner Reiseliste zu finden war. Zuviel Karawanen hatten es versucht, zuviel Siedler wollten das reiche Wüstenland bezähmen, aber am Ende gab es nur Tote.

Sahar saß auf dem Balkon auf einem Kissen, lehnte sich an die Holzquerbalken der Fensterfront und blickte in die fremde Landschaft hinaus. Ab und zu tanzten Schwärme voller Spiegelvögel durch den Himmel, wie Diamanten glänzten sie, wirkten wie Sterne und sangen melancholisch der dunklen Nacht entgegen.

Wo war sie hier nur rein geraten?

Der zweite Tag hier in diesem Tempel war nicht weniger seltsam gewesen. Sie hatte viele unterschiedliche Lebewesen kennen gelernt, Spannendes über diese Welt gelernt und war im Wald umher spaziert. Am meisten versuchte sie den Schlaf zu vermeiden, denn kaum schloss sie die Augen und gab sich der Müdigkeit hin, war sie drüben. Bei Gadhor, dem falschen Himmel, der alle Geräusche schluckenden Welt. Auf dem Weg zu Macinus, bevor Gabs sie da rausgeholt hatte und damit erst einmal das Chaos in ihrem Kopf so richtig angefangen hatte. Sie fasste viele Gesprächsfetzen auf, viele seltsame Blicke, lernte viele noch seltsamere Lebewesen kennen und tat sich unfassbar schwer zu akzeptieren, dass sie in einer Art Gefängniswelt gelebt hatte. In dem festen Glauben, dass dies die Welt war wie sie es kannte. Mit Gut und Böse, Schwarz und Weiß und den unzähligen Grautönen. Aber am Ende hatte sie in einer bewachten und geführten Welt voller Menschen gelebt, die alle eine Lüge lebten. Die alle litten, die Familie, Ziele, Träume, Berufe und diese Welt als Heimat gehabt hatten. Und sie war mittendrin gewesen.

Todsünde. Clanmitglied. Wächter der Todsünde. Macinus Rache. Ein Fehler.

All das folgte ihr auf Schritt und Tritt und keiner dachte daran, ihr alles in Ruhe zu erklären. Sie warteten auf jemanden, etwas. So wie sie seit dem ersten Tag auf eine Erklärung wartete oder eher das Verstehen, was hier eigentlich abging und warum sie davon Teil sein musste. Hatte sich Lust drauf? Nein. Konnte sie abhauen? Vielleicht. Wusste sie wohin? Sicher nicht. Sie hatte niemanden und nirgendwo wohin sie hätte gehen können, das war vorher besser gewesen. Da hatte sie eine Familie gehabt. Nun gut, sie hatte sich eingebildet sie hätte Unfälle, Todesfälle, bösartige Situationen verursacht und war damit ein Einzelgänger geworden, aber sie hatte immer gewusst wohin sie fliehen konnte, würde ihr alles einmal zuviel werden. Niemand konnte ihr damals nachweisen, dass ihr Wunsch ihre Schulkameradin würde sich beim aufmerksamkeitsheischenden Stuhlwippen den Kopf am Hintertisch aufschlagen. Niemand konnte nachweisen, dass es ihr Wunsch war, dass das Haus des Nachbarn in Flammen aufging, nachdem sie den geliebten Kletterbaum „aus Versehen“ abgehackt hatten. Wie sollte man ihr auch soetwas nachweisen, nachdem es schließlich nur Fantasien in ihrem Kopf gewesen waren und sich sich das einbildete? Ein imaginärer Racheengel, dachte sich Sahar immer wieder. Aber sie war nicht allein gewesen.

Jetzt war sie nicht nur ein Einzelgänger sondern auch noch alleine, ganz und gar alleine.

Sie atmete tief ein, aber es klang zittrig, unsicher und falsch. Sie wollte hier nicht sein und andererseits doch, denn sie war fasziniert und neugierig. Diese Welt war interessant, neu und doch wollte sie einfach nur aufwachen.

Es klopfte an ihrer Tür und sie zögerte kurz, bevor sie „Herein“ sagte. Sie hörte das Aufschieben der Tür, Schritte auf dem Boden, dann wieder die Tür. Schritte kamen ihr näher, dann blieben sie stehen. Sahar sagte nichts, sondern wartete. Wer auch immer es war, es gab sicher einen Grund, den sie gleich erfahren würde. Sie hatte keinerlei Eile, aber auch kein Interesse den unzähligen neugierigen Fragen weiterhin Rede und Antwort zu stehen.

„Ich habe Tee gebracht.“ sagte dann eine tiefe Stimme.

Sahar drehte den Kopf leicht und erkannte Gabs. Seit ihrer Rettung hatte sie ihn nur kurz noch einmal gesehen, aber nicht mit ihm gesprochen. Er war seltsam und warf ihr ständig musternde und alles andere als freundlich gesinnte Blicke zu.

„Danke.“ sagte Sahar daher nur und blickte wieder auf das Lichterschaupsiel und den dunkler werdenden Himmel, dessen Farben immer mehr Platz für glitzernde Sterne machten und die warme Nachtluft an nächtlichen Geräuschen reicher wurde. Ein Luftzug brachte den Baum zum Rauschen, das sich langsam durch die dichten Blätter zu ihr arbeitete und mit ihrem Haar spielte.

Sie hörte Schritte, dann wurde neben sie ein Tablett mit einer Karaffe, zwei Gläser und einer Schale Honigchips gestellt. Kurz danach setzte sich Gabs daneben auf den Boden, seine breite Gestalt bewegte sich fast lautlos, geschmeidig. Ebenso er sich beim Kampf gegen Ghador bewegt hatte. Sie blickte auf seinen Oberschenkel, in den Ghador seine metallenen Klauen geschlagen hatte und konnte durch die Hose Bandagen erkennen, die sich abzeichneten.

„Tut mir leid.“ sagte sie dann und blickte wieder geradeaus. Sie konnte spüren wie Gabs ihr einen neutralen Blick von der Seite zuwarf, bevor er sich auch an einen Mittelpfosten der Fensterfront lehnte.

„Ich war zu langsam.“ sagte er dann bloß. „Nichts, was du dir zuschreiben solltest.“

Es klang endlich. Es klang nach einer Aussage, die hier und jetzt das Thema beenden sollte, weil es Sahar nichts anging oder anzugehen hatte.

„Und trotzdem warst du nur in den Kampf verwickelt, weil ich da war und du wegen mir gekommen bist.“ wehrte Sahar seinen Kommentar ab. „Berufsrisiko schön und gut, aber trotzdem tut es mir leid.“

„Dann frag ich mich, was deine Entschuldigung wieder gutmachen kann. Was bringt sie mir?“ fragte Gabs und blickte sie an.

„Sie könnte dir zeigen, dass sich andere um dich scheren. Sich Sorgen machen. Aber hey, bloß nicht, dass dein Herz von soetwas erwärmt wird. Schließlich kommt es ja von mir, einer Todsünde.“

Gabs zuckte zusammen und Schuld trat in seine Augen, aber nur kurz.

„Mir ist es recht egal, ob sich jemand Sorgen um mich macht – egal wer.“ damit bezog er sich auf die Todsünde, wurde Sahar klar. Er wusste, was es bedeutete, sie jedoch immer noch nicht, nur dass sie offenbar eine solche war. Und in ihren Ohren klang es nicht rosig oder begehrenswert, eher… minimal scheiße.

„Na dann, wenigstens einer der mit seinem Alleinsein kein Problem hat.“ stieß Sahar hervor und biss sich gleichzeitig auf die Lippe. Verdammt, sie redete zuviel Privates mit diesem Was-bringt-mir-eine-Entschuldigung-Typen. Sie packte die Karaffe und schenkte sich ein, wenn Gabs selbst etwas haben wollte, dann konnte er selbst aktiv werden.

Wer bin ich denn, dass ich mir seine Anwesenheit aufdrängen lasse und ihn dann auch noch bewirten muss?

Sie nippte wütend an ihrem lauwarmen Tee, den sie als Grüntee mit einer fruchtigen Süße identifizieren konnte. Perfekt für solche lauwarmen Sommernächte, auch wenn die Begleitung gerade nicht sehr perfekt war.

„Weißt du, wie lange du drüben warst?“ fragte dann Gabs, als er sich selbst einschenkte und einen Honigchip nahm.

Sie schüttelte den Kopf und nippte weiterhin an ihrem Tee.

„Das Seltsame an dieser Welt drüben, die wir auch Glitch nennen, ist, dass sie jeglichen Gesetzten widerspricht. In allen drei Welten vergeht die Zeit gleich, nur im Glitch nicht. Du spürst keine Müdigkeit, keinen Hunger, keinen Durst, keine körperliche Erschöpfung oder Schmerzen und eine Minute kann eine Stunde, eine Woche oder auch ein Jahr sein. Deswegen sind die meisten Rückkehrer, wenn es denn welche gibt, entweder kurz vorm Verdursten oder Hungertod. Jemand wie du aber,“ er nahm einen Schluck und blickte auf seine Tasse hinab „kann dadurch zwar nicht sterben, aber seine Todsünde auslösen. Und eine unkontrollierte Todsünde in einer Zwischenwelt in den Fängen von Macinus wäre alles andere als ne schöne Sache.“

„Ich war nicht in Macinus Fängen.“ äffte Sahar ihn nach. „Ich hab ihn nie gesehen, nie mit ihm gesprochen und von meiner Todessünde weiß ich auch nicht besonders viel. Aber am Ende, um ehrlich zu sein, wär mir das recht egal gewesen. Ich wäre im Glitch geblieben, vielleicht gestorben und was sonst passiert wäre, hätte mich nichts angegangen. Ich hätte davon nie erfahren, was ja der Situation jetzt recht ähnlich ist.“

Gabs sagte nichts, aber Sahar wusste, dass sie in provozierte. Ihr ging das ganze Gerede um was war, was hätte sein können, was sein würde und wer sie war so unfassbar auf die Nerven, dass sie keine Geduld mehr für pseudo-gutmenschliche Kommentare von Unbekannten hatte.

Dann, leise und dunkel, fragte Gabs: „Wenn ich dich hier und jetzt umbringen würde, wär es dir lieb?“

Sahar lachte auf.

„Und wohin gelange ich dann, wenn ich sterbe? Ich habe gehört, dass wir uns ja schon im Himmel befinden und wir nicht einfach so getötet werden können. Und der Mord einer Todsünde ein fatales Verbrechen ist.“

„Ich kann dich töten, sodass sich deine Seele auflöst.“ antwortete Gabs.

Sahar blickte ihn schweigend an und fragte sich, ob er gerade einen Witz machte.

„Ich bin ein Todsünde-Wächter, dafür auserkoren meine Todsünde zu beschützen und im Falle einer Misstat zu vernichten. Also, prinzipiell könnte ich schon. Nachteil ist, dass ich dann auch sterbe, ein Tod fordert den Tod des Tötenden.“

„Scheint, als hättest du einen größeren Todeswunsch als ich es hab.“ gab Sahar zurück.

„Nicht wirklich. Aber ich möchte vermeiden, dass eine Todsünde noch einmal durchdreht. Wenn ich das durch meinen Tod verhindern kann, warum nicht.“

„Gerne ein Held, was?“

„Eher alt genug, um auf unzählige Massenmorde, blutige Szenarien, verlorene Seelen und Schmerz zu verzichten.“

„Definitiv gerne ein Held.“ nickte Sahar sich selbst zu.

„Kein Held!“ knurrte Gabs.

„Doch doch! Auch noch ein schweigender Held, der lieber leidet als ein „Danke“ annimmt. Fast wie aus einem Bilderbuch, so romantisch.“ säuselte sie.

„Ich nehme Dankessagungen an, aber von jemanden, der bisher nur die Leben anderer Menschen manipuliert hat, hatte ich mir auch nichts anderes erwartet.“

Das Herz machte einen schmerzhaften Stolperer. Um zu verschleiern, dass er sie mit den Worten getroffen hatte, nahm sie einen großen Schluck und schenkte sich aus der Karaffe nach. Sie würde darauf jetzt nicht eingehen, sie selbst wusste es ja nicht einmal richtig. Sein Kommentar bezog sich auf irgendetwas Erfundenes.

„Jemand macht etwas, das dich unglücklich stimmt und du rächst dich, indem du unsichtbare Fäden ziehst. Prima Sache, um deine eigene Gerechtigkeit walten zu lassen.“

„Ich hab nie…“

„Du hast nie, was? Versucht deine Gedanken zu sortieren, deine Gedanken zu beherrschen, deine Fantasievorstellung von Todesfällen oder Stürzen oder Missgeschicken unter Kontrolle zu halten?“ er schüttelte den Kopf abfällig. „Du hast es genossen. Typisch für eine Todsünde.“

„Ich wusste doch nicht einmal was es war! Ich dachte ich bin verrückt, bilde mir das ein! Ich wollte nie…“ begehrte Sahar auf, Wut stieg in ihr auf und unbeholfene Tränen traten ihr in die Tränen. Sie hatte noch nie darüber gesprochen. Noch nie – nicht einmal sich selbst ganz offen und ehrlich eingestanden, dass sie offenbar eine fürchterliche Kraft besaß.

„Du wolltest nie jemanden weh tun?“ Gabs lachte bös auf, seine Tattoos leuchten milde auf. „Das einzige, was du besonders gut kannst, ist Menschen weh zu tun. Menschen zu verletzten. Menschen zu bestrafen, für etwas, das nur du nicht für gut befunden hast oder nur dich unfair behandelt gefühlt hast.“

Er sah sie mit einem Funkeln in den Augen an, Sahar konnte die Wut auch in ihm spüren. „Du hast dich wie ein beschissener Racheengel aufgeführt, der alle Kontrolle verloren hatte. Und deswegen hättest du den Tod verdammt noch mal verdient, bevor du noch mehr Menschen verletzt oder gar Welten zerstörst.“

Er stand wütend auf und seine leicht blau-weißlich leuchtenden Augen sprühten vor Abscheu und Zorn.

„Und ich bin auch noch ein Todsünden-Wächter, zum Glück nicht von einer Todsünde wie dir. Du hättest im Glitch bleiben und verenden sollen – das wäre für alle die beste Lösung gewesen.“

Sahar fühlte sich an den Moment im Glitch erinnert, als Gabs wie ein Racheengel dagestanden hatte, mit leuchtenden Linien auf seinen Armen und Hals und ebenso leuchtenden Augen. Damals hatte sie gedacht, dass der grimmige Ausdruck auf Gadhor gerichtet war. Doch sie wusste, dass er auch damals nur Befehlen gefolgt war und sie lieber mit Gadhor in der falschen Welt gelassen hätte. Gabs hätte sich lieber tot gesehen, als gerettet zurück in Dhjanna. Ihr Retter war der Mensch, der sie am meisten hasste. Und sie konnte es ihm nicht verübeln, sie fühlte sich selbst falsch, schlecht und als psychopathisches Monster, hatte sie sich schon sehr früh gesehen. Aber diese Worte von jemand anderen, der einst ihr Retter sein sollte, ins Gesicht gespuckt zu bekommen war selbst für sie hart. Gabs war nicht besser als sie, er war jemand der sich und allen anderen etwas vormachte.

Sie wischte wütend die Tränen weg, die sich leise ihren Weg über ihre vor Wut heißen Wangen gebahnt hatten und stand auf.

„Oh, das glaub ich auch!“ sagte sie wütend und laut. „Ich wäre besser im Glitch aufgehoben und weißt du wieso? Weil ich vor Dreckskerlen wie dir in Sicherheit wäre, weil ich mir nicht das alles von dir anhören müsste, weil ich nicht wie die letzten Tage ständig anhören muss, was ich bin und wie toll es doch ist, dass ich aus meiner Welt gerettet wurde. Verdammt nochmal, ich hab nicht darum gebeten!“

„Klar, wie immer. Such die Schuld bei allen anderen, dass das Hier und Jetzt das Schlimmste auf der ganzen weiten Welt ist. Brav, so geht das. Ideal für eine Todsünde, die früher oder später Berserker wird.“

„Ich bin keine verschissene Todsünde!“ warf Sahar ihm entgegen. „Krieg das in deinen Schädel rein, ich bin nichts außer eine Person, die einfach gerne wieder nach Hause gehen möchte!“

„Dein Zuhause?“ er lachte fies. „Deine falschen Eltern? Deine falschen Freunde? Deine falschen Nachbarn? Alles Menschen, die zur Strafe nach Bhannar geschickt wurden und die nicht einmal wissen wer sie sind. Was glaubst du, wer deine Familie war? Deine Freunde? Glaubst du irgendwas davon war echt? Oh, du bist nicht nur ignorant sondern auch noch dumm Sahar! Du hast kein Zuhause, du hast niemanden!“ er breitete die Arme aus und zeigte um sich. „Du bist eine verhasste kleine Todsünde, die von allen lieber tot als lebendig gesehen wird. Du hast keine Familie, keine Freunde.“

„Na, wenn das so ist,“ lachte Sahar und fühlte, wie sich der ganze Hass, die ganze Wut, die ganzen Zweifel auftürmten und ihren Weg nach draußen bahnten. „Kann ich dich ja einfach umbringen.“

„Oh ja, liebend gerne, komm schon!“ er breitete wieder die Arme aus. „Erlöse mich von dir, indem du mich vernichtest!“ lachte er, doch auf einmal blieb im das Lachen im Hals stecken. Seine Augen weiteten sich, denn er merkte, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. „Sa…har…“ krächzte er, doch seine Luftröhre wurde enger und enger. „Hör… auf…“ brachte er noch raus, dann wurde er ruckartig in die Luft gerissen, Arme und Beine abgespreizt. Er schwebte fast friedlich in der Luft, bis sein Körper skurrile Bewegungen machte und Gabs Schmerzensschreie von sich gab. Abwechselnd brachen Knochen entzwei, von ganz kleinen Knochen wie dem große Zeh, bis hin zum Oberarmknochen. Immer einer nach dem anderen und ganz langsam. Gabs Schreie lauten seltsam falsch in dem friedlichen Nachthimmel, doch Sahar hatte das Gefühl verloren, was richtig und was falsch war. Sie spürte seine Worte nachhallen, sie spürte die Wut in ihr kochen, brodeln und jede Faser ihres Körpers ausfüllend. Wenn sie schon so eine verhasste Todsünde war, dann sollte man sie wenigstens mit gutem Grund hassen.

Nach ein paar Knochenbrüchen reichte es Sahar und sie schleuderte Gabs auf den Balkonboden, so heftig, dass der ganze Balkon erzitterte und Gabs bewegungslos liegen blieb. Ihre Tränen waren heiß, aber schließlich war das wer sie eben war. Wie durch eine unsichtbare Hand zog sie Gabs an seinem Kopf in die Höhe, sodass er sie sehen konnte. Er atmete schwer und hatte im Gesicht eine blutige Schürfwunde, Sahar verpasste ihm noch ein paar langsame Schnittwunden, nur um die dunklen Blutperlen auf seiner Haut glänzen zu sehen. Gerade als sie überlegte, ihn an den Himmel zu nageln, rieß Gabs mit letzter Kraft seine Hand hoch und ein paar Tropfen Blut flogen Sahar ins Gesicht. Kurz erblindet wischte sie sich das Blut aus den Augen, doch diese Sekunden reichten Gabs aus. Unter starken Schmerzen holte er aus, packte Sahar mit der Linken am Nacken und rammte ihr die blau-weißlich brennende rechte Hand in die Brust.

Todsünde der Sieben, bei Djanna, Barzach und Djannaham, bei meiner Last des Wächters, ich banne dich für alle Ewigkeiten an mich, meine Sünde sollst du sein und ich dein Schwert, bis Aurora und Astraios sich vereinen.

Gleißendes, brennendes Licht erfüllte Sahar, weitete sich aus und umhüllte auch Gabs, bis es mit einem Blitzen schlagartig verschwand. Gabs ließ Sahar los und sie taumelte zurück, betrachtete das linienförmige Muster, das sich dort wo Gabs seine Hand gehabt hatte Brust nun in schmerzhafter Langsamkeit formte. Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas fühlte sich anders an.

„Was hast du getan?“ fragte Sahar Gabs, doch dieser lag auf dem Balkon und gab nur ein leises Lachen von sich.

„Ich hab mir selbst den Totenschein ausgestellt.“ keuchte er fast unhörbar.

Sahar verstand nicht mehr alles, denn sie wurde von einer Welle von Schmerz überrollt und ihr wurde klar, dass ihre Knochen brachen, dass sie Schnittwunden durchlitt. Dass sie die gleichen Verletzungen durch die sie Gabs geschickt hatte nun selbst durchlitt. Aber wie konnte das sein, was hatte Gabs getan?

Der Boden wurde weich, wackelig, ihr Brennen in der Brust unausstehlich. Sie fiel gen Boden, landete hart auf dem hölzernen Balkon, lag Kopf an Kopf mit Gabs. Die Worte von Gabs, die er schnell und hart gesprochen hatte, irrten in ihrem Kopf umher. Und während sie gemeinsam mit Gabs in die Dunkelheit segelte, konnte sie nicht umhin und Gabs erneut verfluchen. Wenn sie wieder wach war, dann würde sie im die Hölle auf Erden zubereiten. Also sozusagen Djannaham auf Djanna. In was war sie da nur reingeraten.

„In was für einen Wahnsinn hast du sie reingeritten – kannst du mir das einmal erklären?“ eine laute Stimme, die von irgendwo entfernt herkam, weckte Sahar aus einem traumlosen Schlaf. Ihre Augenlider waren schwer und wollten sich einfach nicht heben, also ließ Sahar sie einfach geschlossen. Sie fühlte sich auch alles andere als ausgeschlafen oder geschweige denn fit, sodass wie keinen Grund sah aufzustehen.

„Du kannst nicht einfach so, weil du deine eigene Meinung und Ansichten über die des Rates stellst, soetwas Leichtsinniges und absolut Idiotisches tun! Weißt du, was sie mit dir anstellen werden? Was ich mit dir anstellen möchte?“ Sie hörte unterdrücktes Fluchen und Schritte, die auf und ab stapften. „Gabs, bei aller Liebe, damit hast du einfach ein paar Regeln zuviel verletzt. Ich weiß nicht, ob ich dich damit beim Rat durchschlagen kann. Vor allem noch bei einer so so gefährlichen Todsünde wie sie es ist.“ Sie hörte Seufzen. „Verflucht, Gabs. Du weißt doch nicht einmal ob du ihr Wächter bist oder der einer anderen Todsünde!“

Sie hörte Geräusche, Gemurmel, etwas scharrte auf dem Boden.

„Hätte sie nicht. Und wenn, dann muss sie von jemanden provoziert worden sein.“

Gedämpftes Lachen, das in Husten überging.

„Tu nicht so unschuldig Gabs. Du bist ein Wächter, der zwar einiges mitgemacht hat, aber du tanzt auch sonst nicht nach allen Regeln. Ich weiß seit ich dir den Auftrag gegeben habe, dass es dir widerstrebte dich um sie zu kümmern. Ich kenne deine Ansichten.“

Wieder Murmeln, sie vermutete, dass Gabs antwortete, aber sie konnte ihn kaum verstehen. Dafür aber die Antworten, die eine vertraute Stimme scharf und vorwurfsvoll Gabs entgegen schleuderte.

„Ach halt die Klappe Gabs. Ich hab denselben Mist durchgemacht wie du, nur versinke ich nicht im verzweifelten Selbstmitleid. Krieg dein Leben in den Griff, wir tagen in einer Woche und entscheiden was mit dir und deiner Todsünde geschieht. Auch wenn ich ein Wächter bin, so bin ich auch Mitglied des Rats. Ich wünschte, du würdest anfangen deine Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen. Nicht nur als kindlichen Rachegefühlen heraus.“

Rascheln von Gewand, Schritte und das Schieben der Tür.

„Wenn du so weiter machst, dann gibt es hier für dich keinen Platz mehr, Gabs.“ sagte er tonlos und ernst. „Vielleicht nimmt dich ja Macinus auf.“

Die Tür schloß sich und sie hörte die Schritte auf dem Flur, wie sie sich entfernten. Leise konnte sie Gabs murmeln hören. Sie war froh, dass sie ihn nicht verstand, sie wollte von ihm nicht noch weitere Sachen mitbekommen, die in ihr wieder die Wut hochkochen ließen. Ruhe senkte sich über sie, entferntes Zwitschern der Nachtstürmer, ruhiges Rauschen in den Bäumen und ein müdes Herz ließen sie wieder einschlafen.

Als sie erneut wach wurde fiel ihr das Öffnen der Augen um einiges leichter. Mildes Sonnenlicht fiel durch die Blenden in das Zimmer, sie lag im Schatten auf dem Bett. Leichte weiche Decken ruhten auf ihr und Sahar sah, als sie den Kopf drehte, dass auf dem Tisch in der Mitte ein großes Tablett mit einigen Schüsselchen und Schälchen stand. Alle waren zugedeckt, eine Karaffe mit hellrotem Getränk stand ebenfalls auf dem Tisch. Der Anblick weckte einen unsäglichen Durst in Sahar und sie setzte sich langsam auf. Alles, aber auch wirklich alles in ihrem Körper protestierte gegen diese Bewegung. So musste sich also Altsein anfühlen, dachte Sahar zähneknirschen und hievte sich in eine sitzende Position. Ihre Arme und Beine, ihr Kopf sogar ihre einzelnen Finger fühlten sich schwer und steif an. Kurz dachte sie daran, einfach für immer liegen zu bleiben, aber dann siegte ihr Durst. Langsam, Stück für Stück, schob sie ihre Beine über die Bettkante hinaus bis ihre Füße den Holzboden ertasteten.

Sie atmete tief durch. War das das Ergebnis von gestern Nacht? Oder war das gestern gewesen? Sie hatte ein seltsames Zeitgefühl: es hätte gestern aber auch letztes Jahr sein können. Als wär sie aus dem Zeitfluss rausgerissen worden. Wie lange hatte sie denn nur geschlafen? Das Seltsame war jedoch, dass sie bis auf die schweren und schmerzenden Glieder keine anderen Schmerzen verspürte. Aber sie wusste, dass sie Brüche erlitten hatte, sie hatte es gespürt und die Erinnerung daran bereitete ihr stechende Schmerzen. Aber sie vermutete, dass sie, in einer Welt voller Magie, Monster und Märchen, sicherlich durch irgendwelche magischen Heiler oder sonst was innerhalb einer Minute wieder zusammen geflickt worden war. Es hatte Vorteile in solch einer Welt zu leben, auch wenn sie der Grund für die Verletzungen war. In ihrer Welt hatte sie noch nie solch eine Macht gehabt geschweige denn diese auch nur ansatzweise so gezielt einsetzen können. Neue Welt, neue Mysterien. Wenn nicht alles immer komplizierter werden würde, seufzte sie innerlich.

„Auf geht‘s…“ murmelte sie zu sich selber und belastete langsam ihre Füße, dann die Beine und kam humpelnd zum Stehen. Ihre Beine gehorchten ihr jedoch fast nicht, sodass sie für einen Bruchteil einer Sekunde dachte jetzt auch noch frontal auf den Boden zu brettern und sich dabei den Kopf zu Brei zu schlagen. Was wäre das nur für ein Anblick, sie mit Matschekopf als Todsünde auf dem Boden, im Nachthemd… Gabs würde einen Freudentanz aufführen und mit Konfetti um sich werfen. Gabs. Sie brodelte innerlich und stolperte unbeholfen zum Tisch hinüber, als die Tür aufging und jemand ins Zimmer trat.

„Du bist wach!“ kommentierte der Besucher, mehr feststellend als überrascht. Mit etwas mehr Überraschung, er hatte sie auch aus den Gedanken gerissen, sah Sahar ihn an und erkannte den Typen aus dem Bus an ihrem letzten Tag als ganz normale Bewohnerin der Erde. Also zumindest war sie damals noch die Erde für sie. Der Gedanke daran ließ sie wieder genervt daran denken, was alles anderes und was alles noch unausgesprochen war. Sie presste die Lippen zusammen und schenkte dem Tisch, den sie fast erreicht hatte, wieder volle Aufmerksamkeit. Langsam aber sicher wurden ihre Gelenke warm und das Gehen ging flüssiger von Statten.

Sean stand unbeholfen in der Tür, während Sahar ihn ignorierte und zumindest für ihn amüsant stolpernd den Tisch erreichte. Er schloss die Tür hinter sich und ging auf den Tisch zu.

„Darf ich?“ fragte er, während Sahar sich setzte. Es wirkte, als wäre allein das schon anstrengend für sie gewesen. Sie nickte und griff nach der Karaffe.

„Ich mach das schon.“ meinte Sean und schenkte ihr ein, er bezweifelte, dass sie die Karaffe selbst halten könnte. Sie griff mit beiden Händen nach dem Glas und leerte es in einem gierigen Zug. Er schenkte ihr nach. Erst nach dem dritten Glas war ihr Durst soweit gestillt, dass sie sich auf das Essen konzentrieren konnte Gemeinsam mit Sean entfernten sie die Deckel der Schalen. Würziges Fleisch mit Zwiebelsaft, eingelegter Lachs mit Waldgemüse, duftender Reis mit milden Pilzen, frittierter Kartoffelbrei mit einer süßlichen Sauce dazu, frische Früchte und eine klare Suppe erfüllten den Raum mit einem köstlichen Duft. Sahar zog es den Magen zusammen, so groß war ihr Hunger und sie dachte, dass sie, wenn sie nicht gleich etwas aß, hier und jetzt sterben würde. Mit unsicherer Hand griff sie nach dem Besteck und machte sich über das Essen her, das wohl leckerste Mahl, das sie jemals probiert hatte.

Sean musste schmunzeln. Ausgehungerte Menschen, vor allem jene, die noch lange geschlafen hatten und verletzt waren, waren immer die besten Gäste. Er merkte jedoch, dass Sahar mit den Folgen des Kampfes zu kämpfen hatte. Oder konnte man es überhaupt Kampf nennen?

Als er mit der Blutmagierin, sie hieß Ella, und den Momentgranaten das Spheren-Portal benutzte und nach Mesembria gekommen war, hatte er gehofft, dass ihr nichts passiert war. Als er dann erfuhr, dass einer der Wächter sie absichtlich erzürnt und herausgefordert hatte, nur um eine Ausrede zu haben, sie zu bannen, war er kurz davor gewesen diesen Gabs einfach auszuschalten. Einfach so, hier und jetzt. Zack – und weg war er vom Fenstern und die Bannung wäre ebenfalls flöten gegangen. Ella hatte ihn jedoch zurückhalten können und ihn dazu überredet, erst einmal in Mesembria anzukommen und mit allen anderen zu sprechen. Er hatte Ma‘r kennen gelernt und auch Soriam, ein Wächter und Mitglied des Rats. So wie Agnoris es einer war, außer der Last des Wächterdaseins. Er hatte all die Macht und keinerlei Verpflichtungen bezogen auf die Todsünden. Alles was er entschied, würde er für sich entscheiden. Wie schon immer, dachte Sean missmutig.

Sahar genoss das Essen, es schmeckte unglaublich gut und füllte ihr Loch im Magen auf. Wärme und Sättigungsgefühl durchströmte sie, als sie das Besteck weglegte und auf die leeren Teller und Schalen blickte.

„Puh.“ gab sie von sich und lehnte sich im Stuhl zurück. „Ich glaub, ich war noch nie so hungrig gewesen.“ Sean hatte die ganze Zeit nichts gesagt und sie in Ruhe essen lassen, etwas, das sie ihm hoch anrechnete, denn er sah aus, als würde er gleich platzen. Nicht durch zuviel essen, sondern weil er ihr unbedingt etwas erzählen wollte.

Trotzdem stand er auf und machte sich in der Teeecke daran zu schaffen, das magischen Pad zu erhitzen und das Wasser fast zum Kochen zu bringen. Er goß eine kleine Kanne mit Tee auf und brachte diese mit zwei Bechern zu ihr an den Tisch.

„Oder willst du mal frische Luft schnuppern?“ fragte er, als er vorm Tisch stand. Sahar blickte durch die halb geschlossenen Blenden raus und nickte. Trinken, Essen und jetzt frische klare Luft – das alles musste helfen. Sean stellte den Tee auf dem Tisch ab, machte sich daran die Blenden zu justieren und hochzufahren.

Auf dem Balkon wehte ein angenehmer Wind, es war Mittag, sodass sie sich im schattigen Bereich des Balkons auf die Kissen setzten und die Sonnenluft genossen. Sahar blickte sich unsicher um, Sean bemerkte ihre Blicke.

„War es hier?“ fragte er dann und blickte sie skeptisch an.

Sie nickte und rieb oberhalb ihrer Brust die Stelle, die in Flammen gestanden hatte. Sean beobachtete sie und seufzte.

„Ich hätte damals sofort dafür sorgen müssen, dass du mitkommst. Nicht erst noch Überprüfen ob du es wirklich bist, sondern dich einfach einpacken. So ein Mist.“ Er schenkte ihr Tee ein und dann sich selbst.

„Bist du wirklich der Typ aus dem Bus? Der Mülleimer?“ setzte sie nach. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie sie diese seltsame Diskussion mit dem Mülleimer gehabt hatte. Sean verschluckte sich fast an seinem Tee und hustete leicht. Dann lachte er. „Ja… der Mülleimer. Schön, dass du mich noch in Erinnerung hast.“

„Naja, du hast ja auch ganz schön viel Mist geredet.“ lenkte Sahar ein und schmunzelte leicht.

„War das die gammelige Bananenschale, die mir aus dem Mund hing? Ich konnte nichts dafür, manche treffen einfach nicht richtig beim Müllwegwerfen.“ verteidigte sich Sean. „Ich glaub eher, das Verpackungspapier der Leberkäse-Semmel. Du hast schon so ein bisschen gerochen, das weißt du, nicht wahr?“

„Das ist jetzt schon unter der Gürtellinie. Kann ja nicht sein, dass du uns Mülleimer als stinkend bezeichnest. Wir sollen alles wegstecken, aber dürfen nicht stinken. Tsss, immer diese verkorkste Erwartungshaltung.“

Sahar lachte und fühlte sich, als würde ihr Herz das erste Mal seit langem durchatmen. Sie kannte Sean nicht wirklich, aber es war um einiges leichter mit ihm zu reden als mit allen anderen, die sie bisher getroffen hatte. Deswegen traute sie sich auch das erste Mal ihren einzigen und eigentlich einfachen Wunsch zu adressieren.

„Sean, kannst du mir erklären, was hier gerade passiert und warum ich hier bin?“

Sie blickte ihn an und er erwiderte mit einem stummen innerlichen Kampf, der in seinen blauen Augen gespiegelt wurde. Dann seufzte er, fluchte leise und lehnte sich zurück.

„Wenn dich jemand fragt, woher du das alles weißt, dann sagst du ein fliegender Mülleimer hätte dir das zugetuschelt – haben wir uns verstanden Madame?“ Er sah sie an und Sahar merkte, dass es ihm wirklich wichtig war, dass sie ihn nicht verriet. Vor wem hatte er Angst?

„Okay, versprochen – wir haben nie miteinander geredet.“ Sahar prostete ihm zu, er prostete schmunzelnd zurück.

„Also gut, dann hol ich dich mal beim wichtigsten aller Themen ab: bei dir. Und um keine großen Umwege zu machen, wer du bist und warum du hier bist, gibt‘s das von mir kurz und knackig. Du bist hier, weil du eine der sieben Todsünden bist. Und deswegen musst du in Djanna sein und nicht etwa in Barzach, wie du bis vor kurzem noch warst. Todsünden sind nämlich, auch wenn die meisten dir etwas anderes erzählen werden, ein lebenswichtiger Bestandteil für unsere Welten. Nichts funktioniert, wenn die Todsünden nicht im Gleichgewicht mit den Gesetzen der drei Welten sind. Und damit sie im Gleichgewicht sein können, müssen sie einen Wächter zugeteilt werden, der sie beschützt, aber auch Schlimmeres verhindert. Sozusagen das erweiterte Gewissen. Jeder Wächter hat alle sieben Namen der Todsünden auf seinem Körper als magische Runen eingekerbt, vom Herzen wandern sie über die Brust zum Nacken und zum Kopf: die Verknüpfung des Herzens mit dem Verstand. Denn die Wächter müssen genau das sein und sind daher mit besonderen Kräften ausgestattet, die es eben auch ermöglichen eine Todsünde zu vernichten. Sozusagen das Ultimatium, sollte alles schief gehen und die Todsünde sich selbst vergessen.“

„Sowas ähnliches hatte Gabs auch gesagt.“ meinte Sahar, als sie sich an seine Worte erinnerte. „Und dass eine Todsünde auch Welten vernichten könnte – oder soetwas. Stimmt das?“

Sean seufzte.

„Gabs… Der Idiot von einem Dramatiker hat einiges durchgemacht. Es gab eine Zeit, in der die Todsünden und deren Wächter alles im Griff hatten und gemeinsam ohne Probleme die drei Welten geregelt hatten. Aber dann, vor einigen Hundert Jahren, gab es einen Krieg. Eine Zerstörung, die fast unsere Welten ausgelöscht hatte. Dabei hatte eine Todsünde die Kontrolle verloren, so sehr, dass ihre ungebändigte Macht sich komplett und ohne Grenzen entfaltete. Der Krieg dauerte sieben Jahre, bis dann durch die verlorene Todsünde und deren Wächter eine Falle erstellt wurde, die zur siebten Stunde alle Todsünden auslöschte. Manche Wächter überlebten die Trennung nicht, manche Wächter zerbrachen an den Folgen. Noch nie hatte eine Todsünde sich selbst und ihre Brüder und Schwestern vernichtet, wir wussten nicht welche Auswirkungen es haben würde, was geschehen könnte.

Aber, als dann die erste Todsünde wieder neugeboren wurde, wussten wir: die Todsünden hatten uns nicht verlassen, sie fanden nur neues Leben wieder. So wurden auch neue Wächter geboren, um die verlorenen zu ersetzen. Ich bin einer davon, Gabs aber ist einer der alten. Ihm wurde seine Todsünde aus dem Herz gerissen, für die er mehr als siebenhundert Jahre gesorgt hatte. Seine Todsünde war wie ein Bruder für ihn gewesen, seitdem ist er etwas verbittert, hab ich mir sagen lassen.“ Sean zuckte mit den Schultern. „Ich kann‘s ihm nicht verübeln, aber ich hätte ihm längst den Posten als Wächter entzogen. Das, was er mit dir gemacht hatte, sprengt alle nur erdenkbaren Regeln der Todsünde-Wächter-Beziehung. Er hat sich selbst nicht unter Kontrolle, er sieht in Todsünden nur das, was er sehen möchte und nicht das, was ist. Er hat vergessen, dass die Wirklichkeit ihm nichts Böses will. Deswegen erfindet er eigene Regeln und geilt sich an seiner eigenen Macht als Wächter auf. Einfach ein Idiot, wie schon gesagt.“ er schüttelte mit dem Kopf und schenkte sich und Sahar nach. Als er Sahar anblickte und sie grinste, war er überrascht. „Was ist?“ Er hätte nicht gedacht, dass diese Geschichte jemanden zum Lächeln bringen würde.

„Dann hatte ich ja Recht“, meinte Sahar. „Ich hab ihn auch das ein oder andere Mal als Idioten beschimpft. Da bin ich froh, dass ich nicht die einzige bin, die ihn so sieht.“

Sean musste lachen. „Wenn er nur ein Idiot wäre, der nicht leichtsinnig irgendeinen total stumpfsinnigen Mist machen würde, dann wäre es um einiges besser.“

Er deutete auf die bandagierte Brust von Sahar, dessen weißen Bandagen um die Schultern gewickelt waren.

„Das, was er da vor ein paar Tagen abgezogen hat, ist einfach nicht zu entschuldigen. Vielleicht verliert er sogar seinen Kopf.“

„Vor ein paar Tagen?“ fragte Sahar verdutzt.

„Ja, ihr beide wart einige Tage ausgeknockt, Gabs hatte es besser weggesteckt als du, aber schließlich wurde er ja nicht gebannt. Also insgesamt fünf Tage.“

„Wow, ich hatte schon gedacht, dass ich länger geschlafen hatte, als nur eine Nacht, aber das ist wirklich lang.“

Sean zuckte mit den Schultern.

„Eigentlich normal, wenn man sich anschaut, in welchem Zustand ihr beiden wart. Du hattest ihm zwölf Knochen gebrochen – ergo dir selbst. An sich eine gute Sache,“ er grinste böse „denn Gabs hatte es ja nicht anders verdient, aber in dem Zusammenhang war es dann einfach ein Schuss in den Ofen: was er durch deine Hand erfährt, erleidest auch du. Eine simple Reglung, die die Beziehung zwischen der Todsünde und dem Wächter harmonischer gestalten soll. Harmonie am Arsch, wenn du mich fragst. Aber,“ fügte er dann hinzu „es war trotzdem gut, denn du hast tatsächlich unkontrolliert deine Macht ausgekostet. Das kostet Kraft und Ausdauer und eigentlich eine Menge Übung vorher, damit du sie auch unter Kontrolle hast. Daher war es vielleicht deine und unser aller Rettung? Wer weiß.“

„Ja, wer weiß.“ murmelte Sahar, die nicht wusste, ob sie es gut fand, was vor fünf Tagen passiert war oder nicht. Sie war wütend auf Gabs, fühlte sich etwas hilflos gegenüber dem, was er mit ihr angestellt hatte und fand die Vorstellung, dass sie eine Todsünde sein sollte, ziemlich lächerlich.

Sie blickte in den Himmel, das Grün der Bäume schwankte im leichten Wind gemächlich von links nach Rechts. Ganz weit hinten am Horizont sah sie die Berge, die das gigantische Tal von Mesembria gegen die Wüsten abschirmten. Die Stadt lag entfernt glitzernd da, als wär sie Tagesreisen entfernt, doch sie wusste, dass die nur wenige Stunden im Zentrum der verschachtelten Hauptstadt stehen würde. Eine kleine Truppe Golddrachen tanzte über den Himmel, durch kleine Puffwölkchen durch und sich in den Himmel hochschraubend. Sie fragte sich wo die anderen waren und was sie als Todsünde denn auszeichnen sollte. Wer die Entscheidung traf wer welche Rolle zu spielen hatte.

„Klärt das denn etwas deine Fragen die du hattest?“ fragte Sean dann, als hätte er ihre Gedanken gelesen.“

„Etwas.“ meinte Sahar. „Nur würde mich interessieren warum gerade ich eine Todsünde bin und wer die anderen sind. Es soll ja anscheinend sieben davon geben, oder?“

„Jup, genau sieben. Und warum du eine bist kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass du als eine der Todsünden wiedergeboren wurdest und ich kann mir auch schon fast denken welche Todsünde du bist. Aber das muss man im Rat und mithilfe der sieben Himmelsgläser bestimmen. Eigentlich hättest du hier in Djanna aufwachsen sollen und nicht in Barzach, da ist wohl irgendwas schief gelaufen. Aber das wäre nicht das erste Mal, Barzach ist immens komplex und das Prozedere verstehen nur sehr wenige im Detail. Wenn überhaupt.“

„Und welche bin ich dann?“ wollte Sahar wissen, ihre Neugierde war riesig. Das Prinzip der Todsünden kannte sie noch aus der Schule. Das waren besonders schwerwiegende Sünden, die kategorisiert wurden und seit Anbeginn der Zeit das Schlechte verkörperten. Sahar sah es zwar etwas anders, aber sie verstand, dass es Regeln gab, nach denen man versucht das Miteinander zu gestalten. Für sie waren die zehn Gebote, die es in ihrer Welt gegeben hatte, nichts anderes als eine Anleitung zum einwandfreien Miteinander gewesen.

„Erst mal zu den Namen, jede Todsünde hat nämlich eine eigene Bezeichnung, ergo hast auch du einen anderen Namen. Es gibt Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia. Von diese 7 haben damals nur Avaritia, Gula und Invidia überlebt. Alle vier anderen wurden neu geboren und befinden sich jetzt sicher versteckt an unterschiedlichen Orten. Am Ende wissen wir noch immer nicht, wer welche Todsünde ist und können ihnen keine Wächter zuordnen – deswegen bin ich ja auch quasi arbeitslos. Ne echte Freude sag ich dir.“ er sah grimmig drein, als wär es ein leidiges Thema für ihn.

„Also kann ich entweder…“

„… entweder Superbia, Luxuria, Ira oder Acedia sein. Genau.“

Sahar blickte in das Blätterdach des jahrhundertealten Baums und überlegte. Konnte ihr Charakter einer der Todsünden zugeschrieben werden? Funktionierte das so? Oder hatten alle Todsünden die gleiche… Macht?

„Es ist nicht einfach die Todsünde zu bestimmen, wenn man nicht die sieben Himmelsgläser befragt. Alles andere ist unsicher und unwahrscheinlich, also zerbrech dir jetzt bloß nicht deinen lädierten Kopf wer oder was du sein könntest.“

Sahar blickte Sean an, der ihr aufmunternd zulächelte und spürte das erste Mal seit langem einen Funken Geborgenheit und Sicherheit in seiner Gegenwart. Sie lächelte zurück.

„Dass ein Mülleimer so allwissend sein kann.“ sagte sie. „Erstaunlich.“

„Das kommt daher, dass wir jahrelang nur zuhören und das Wissen der Menschen um uns herum aufsaugen. Quasi wie deren Müll, manchmal echt ekelhaft, was da so gesagt wird, aber manchmal auch wirklich ein Leckerbissen.“ Sahar verzog lachend das Gesicht.

„Nein, wirklich! Manchmal wünschte ich mir ich könnte diese eine Bananenschale wieder ausspucken, sodass sich dieser eine hirnlose Depp das Genick brechen würde. Aber nein, als Mülleimer darf ich ja nicht in das Schicksal eingreifen. Das wäre eine verdammt gerechte Welt, wenn wir Mülleimer an der Macht wären.“ Er sinnierte gespielt vor sich hin und Sahar konnte nicht aufhören zu lachen. Ihr Herz flatterte dabei glücklich und fast vergaß sie das Brennen auf ihrer Brust.

Gabs, der vor ihr leicht geöffneten Zimmertür stand, ballte seine Fäuste und kämpfte mit sich selbst nicht das Zimmer zu stürmen und diesen Sean von dem Balkon zu schleudern. Aber im Vergleich zum Abend vor ein paar Tagen riss er sich zusammen und schloss die Tür lautlos.

In den nächsten drei Tagen lernte Sahar vieles der Welten kennen, verstand wie es seit Jahrhunderten funktionierte, dass es die drei Welten friedlich nebeneinander gab und wann der Glitch geboren wurde. Der Glitch entstand als die Todsünde Ira Amok lief und vier der sieben Todsünden sich selbst inbegriffen vernichtete. Es war eine Art Selbstschutzmechanismus, der eine Sphere öffnete, die sich jedoch schlagartig manifestierte und zwischen den drei Welten als Art Unterwelt bildete. Man hatte versucht den Glitch zu durchsuchen, zu verstehen, was er enthielt und ob eventuell von den verlorenen Todsünden oder Wächtern dort welche gestrandet waren. Von den Suchtrupps kamen die meisten nicht mehr lebend zurück, denn man hatte unterschätzt, dass die Gesetze der Zeit dort anders galten als hier. Aber auch vieles andere war einfach… falsch. Daher auch der Name Glitch. Sahar konnte bei den Erzählungen nur allzu gut verstehen, was sie unter „falsch“ versuchten zu erklären. Ihr ging das Gefühl nicht mehr aus dem Kopf in den Himmel zu sehen und das nagende Gefühl, dass dies nicht richtig sei, loszuwerden ohne aber sagen zu können, was nicht stimmte.

Sie durchkämmte Stunden lang die Umgebung, durch Waldwege hin zu kleinen Bächen, vorbei an Dörfern oder durch die Stadt, nur um sich immer wieder zu verlaufen. Meist war Ma‘r oder Sean mit ihr unterwegs, erzählte Geschichten oder erklärte wie die Stadt an sich funktionierte. Einmal traf sie auch Soriam, derjenige, der sie bei ihrer Rettungsaktion aus dem Glitch empfangen und sich um sie gekümmert hatte. Soweit sie wusste war Soriam nicht nur ein Mitglied des Rats sondern auch einer der Wächter, was sie auch sofort an den Zeichen entlang seines Hals erkannte. Er hatte einen dunklen Bart doch seine Haare, die seitlich und hinten abrasiert waren, leuchteten schlohweiss, auch wenn die langen Haare auf dem Oberkopf, zusammengebunden zu einem Dut, ebenso dunkel wie der Bart waren. Sean hatte hellblonde Haare, doch auch bei ihm konnte sie eine hellere Färbung vor allem auf der Seite der Runen entdecken, die sich den Hals und Kopf entlang schlängelten. Bei Gabs kurzen schwarzen Haar zeichneten sich die Runen auf der dunklen Haut ab, als hätte er keine Haare. Sie vermutete, dass es etwas mit der Macht der Runen zu tun haben musste, dass sich die Farbe der Haare nur dort veränderte.

Soriam saß auf einer Wiese, etwas höher gelegen und einen kleinen Fußmarsch von ihrer Unterkunft entfernt. Es sah so aus als würde er mit jemanden sprechen, der nicht hier war, als wäre er in Gedanken versunken.

Gerade als sie wieder ganz vorsichtig umdrehen und gehen wollte, sie fühlte sich sher fehl am Platz, hörte er Soriam „Warte, Sahar.“ sagen. Sie blieb stehen und drehte sich um, Soriam lächelte ihr zu und stand auf, strich sich das Gewand glatt.

„Ich dachte eigentlich, dass diesen Ort noch niemand kennt.“ meinte er und blickte in die weite Ferne. Die Aussicht war berauschend und der Duft der Wildblumen war intensiv und lud zum Träumen ein. Sie konnte verstehen, warum er gerne hier oben war.

„Ich werd‘s nicht verraten.“

„Keine Sorge, ich hab ein Talent dafür besondere Orte zu finden. Das Talent da oben.“ sagte er dann und zeigt auf einen entfernten und nicht vorhandenen Fleck am Himmel, der mit Wolkentürmen und Blautönen einer zweiten Welt gleich kam.

„Da oben?“ sie verstand Soriam nicht wirklich und blickte ihn fragend an.

„Beim Sehen kann ich dir nicht helfen, du musst dich ein bisschen anstrengen.“ meinte er dann und seine Lachfalten wurden tiefer.

Ich mach mich hier mal wieder zu Deppen, dachte sich Sahar und strengte sich noch einmal an irgendetwas am Himmel zu entdecken. Dann sah sie einen Fleck, der sich bewegte und sie merkte, dass dieser Fleck auf sie zusteuerte und von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Irgendetwas flog direkt auf sie zu und das noch in einem beachtlichen Tempo!

„Was…“ brachte sie hervor und ging automatisch einen Schritt zurück, um schnell in Deckung springen zu können. Nicht, dass ihr das besonders viel helfen würde, wenn dieses Ding mit der Geschwindigkeit in die Erde einschlug.

„Das ist Invidia, Sahar. Kein Grund gleich in Deckung hechten zu wollen.“ er lachte breit und genoss den Augenblick offensichtlich.

Invidia? Eine der sieben Todsünden?

Jetzt mit Neugierde und leichter Aufregung blickte sie dem Etwas entgegen. Bevor sie das fliegende Etwas ausmachen konnte hatte es sie schon erreicht, aber anstatt auf der Wiese zu zerschellen, riss die Tosünde elegant mit voller Wucht die Flügel auseinander und bremste so die Geschwindigkeit schlagartig ab. Der Windstoß fegte Sahar von den Beinen, aber sie krabbelte schnell wieder zurück. Soriam hatte sich gesichert hingekniet und ein freudiges Funkeln lag in seinen Augen.

Auf der Wiese hatte ein riesiges silbern-violett schimmerndes Wesen die Klauen in die Erde geschlagen und legte die riesigen Schwingen vorsichtig an den Leib, der in der Sonne glitzerte.

„Invidiaaaa!“ brüllte Soriam und sofort brüllte der Drachen zurück, so laut, dass Sahar die Hände an die Ohren legte und den Schrei in ihren Knochen spüren konnte. Soriam lachte und sie hörte den Drachen tief-knurrend lachen. Dann sahen sich Soriam und Invidia ein paar Sekunden in Ruhe an, sprachen kein Wort bis der Drache den Kopf vorsichtig an die Stirn von Soriam tippte. Soriam strich über die silbern-violetten Schuppen, die beständig bei jeder kleinsten Bewegung die Farbe wechselten.

„Willkommen zurück.“

Darauf erglomm Der Drache in silbernen Licht und begann zu schrumpfen, bis ein junger Mann mit silbernen Haar vor ihr stand. Er lachte Soriam an und Sahar konnte erkennen, dass er dieselben dunkelvioletten Augen des Drachens hatte. Er war Invidia, ein Drache? Ihr blieb jeder Kommentar im Hals stecken, es fiel ihr schwer zu glauben, was sie gerade gesehen hatte. Ein Drache! Das Schönste, was sie bisher gesehen hatte und was sie nie geglaubt hätte jemals sehen zu können. Bis ihr Blick auf Invidia fiel, hinunter wanderte und ihr die Röte ins Gesicht stieg. Er war vollkommen nackt.

„Ah, sorry!“ rief sie und drehte sich sofort um. „Ich geh schon mal vor!“

Sie konnte beide miteinander sprechen hören, dann lachten sie.

„Warte Sahar, er ist gleich angezogen!“ rief Soriam glucksend und sie hörte Invidia sagen „So macht man einen gekonnten ersten Eindruck!“.

Gekonnt, wer weiß. Bleibend auf jeden Fall, dachte Sahar und wartete darauf, dass Soriam ihr wieder grünes Licht gab. Sie hätte nie gedacht dass eine Todsünde auch ein Drache sein konnte oder etwas anderes als Mensch. Schubladendenkerei, schimpfte sie sich. Aber solang man nicht eines Besseren belehrt wird, kann man auch nicht erkennen, welche anderne Möglichkeiten es gibt.

Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm. Invidia war groß, schlank gebaut und jede Faser seines Körpers schien aus Muskeln zu bestehen. Seine scharfen Eckzähne, seine klauenähnlichen Hände und seine violetten Drachenaugen machten klar, dass er keine fliegende Katze sondern ein respekteinflößender Drache war.

„Hallo Sahar! Schön dich kennen zu lernen, auch wenn du meine Freude nicht mehr sehen kannst, jetzt, da ich angezogen bin…“ er grinste schelmisch und handelte sich prompt einen Schlag von Soriam ein. „Invidia, reiß dich zusammen.“ Er lachte und nickte Soriam zu. „Ist ja gut. Ich dachte halt ein Scherz lockert die Situation sicher auf.“

„Ich glaube, dass deine Landung als Drache und deine Verwandlung in einen nackten Halbdrachenmenschen Auflockerung genug war.“ gab Soriam zurück.

„Findest du?“ Dann an Sahar gewandt: „Findest du?“

Wider ihren Willens musste Sahar lachen. Diese zwei waren ein eingespieltest Team und wirkten perfekt für einander, wie Vater und Sohn oder zwei sehr gute Freunde.

„Ich finde es einfach schon toll eine andere Todsünde als mich kennen zu lernen.“

„Ich bin der einzige hier?“ fragte Invidia erstaunt.

Soriam nickte. „Ja, es gibt gewisse Komplikationen. Aber die Todsünden, die wir versammeln können, versammeln wir. Es sollten alle kommen außer…“

„… außer Superbia.“ murmelte Invidia.

Soriam nickte wieder.

Sahar wusste nicht was hier vorging, es war das erste Mal, dass sie davon etwas hörte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass die Todsünden offenbar hier versammelt werden sollten.

„Wer ist Superbia?“ fragte Sahar dann einfach in die grimmige Stille.

Invidia sah sie an, dann Soriam, der seufzte. „Sie weiß sehr wenig. Wir wollten ihr alles erst dann erklären, wenn sie als Todsünde bestimmt worden wäre. Aber durch eines… unschönen Vorfalls haben wir ihr schon sehr viel erzählt. Trotzdem hat sie noch keine andere Todsünde getroffen und weiß nichts vom anstehenden Zusammenkommen.“ An Sahar gewandt fügte er dann hinzu: „Lass mich erst einmal mit Invidia in Ruhe sprechen, dann…“

„Nein,“ unterbrach ihn Invidia. „Sie hat alles verloren und aufgegeben, weil sie eine Todsünde sein soll. Sie hat das Recht von Anfang an alles zu erfahren, was ihr helfen könnte sich selbst besser zu verstehen.“

Nach einem stummen Kampf, der zwischen den zwei Männern ausgetragen wurde gab Soriam schließlich nach. „Was versuch ich auch mit einem Halbdrachen zu argumentieren…“

„Eben!“ grinste Invidia. „Glaub mir, wenn es ums Verstehen von Todsünden geht, dann gibt es niemanden besseren als mich.“ er drückte Sahars Schulter freundlich. „Schließlich bin ich der Älteste unter uns allen.“

„Auch wenn er sich nie so aufführt.“ und man konnte die ergebnislosen Bemühungen ihm etwas besseres Benehmen beizubringen fast greifen. „Jetzt aber los, zurück. Mal sehen ob noch jemand anderes da ist. Nicht, dass Gabs noch einer anderen neuen Todsünde das Bannmal auferlegt.“

„Er hat was?“ brauste Invidia auf.

„Sahar, erzähl‘s du ihm. Am besten von Anfang an, damit er‘s auch ja versteht.“

Und Sahar erzählte Invidia was alles geschehen war, seit sie in dieser Welt gelandet war. Wie erwartet brüllte Invidia vor Lachen, als sie Sean als Mülleimer beschrieb, aber das war schließlich nur der Anfang.

Im Gästehaus, auch Nordlicht gennant wurde aufgrund der nördlichen Lage von Mesembria, war das große Zimmer im Restaurant fast übervoll. Was Sahar als Café interpretiert hatte, galt als eines der besten Restaurants in der Umgebung – vor allem für Wanderer und Pilgerer war es ein Muss auf der Liste an Orten, die sie auf ihrer Reise besucht haben mussten. Als Gästehaus fungierte es nur für wenige Gäste, denn an sich wurde das Nordlicht auch vom Rat und Regierungshäuptern von Mesembria benutzt. Für Gäste von der Regierung Mesembria, aber auch für Zusammenkünfte oder Treffen, die weniger im Stadtzentrum durchgeführt werden sollten.

Das Nordlicht wurde von zwei Freunden von Soriam geführt, die er seit sehr langer Zeit kannte – so kam es Sahar zumindest vor. Und sie merkte, dass sie die Bedeutung von „sehr lange“ neu definieren musste. In ihrer Welt oder eher in ihrem Verständnis war das eine gewisse Anzahl an Jahren, eventuell sogar Jahrzehnte, die man einen Menschen kennen konnte. Hier aber konnte das ein, drei oder sogar fünf Jahrhunderte bedeutet. Es war, als würde auf einmal eine Packung Nudeln eine Tonne Nudeln bedeuten. Nur eben mit dem Vorteil, dass bei der Zeit man nicht von einer Tonne Spaghetti erschlagen würde. Aber dennoch fühlte es mindestens genauso schwer an, sich vorzustellen jemanden beispielsweise 432 Jahre zu kennen anstatt „seit der achten Klasse“.

Und Sahar kannte die meisten hier nur ein paar Tage, was bei der Zeitmessung und dem Alter aller anderen ein Wimperschlag sein musste. Hoffentlich würde sie länger durchstehen.

Die Angst frisst sich geduldig wartend

durch Herzschlag, Tränen, Lächeln,

lässt Zweifel an so vielem fragend,

bis man selbst lebt schwächelnd.

Der erste Augenschlag am Morgen

begrüßt den Tag, das neue Leben

doch trieft er nun voll dunkler Sorgen

der Geschmack von Angst bleibt kleben.

Die Flucht an jedem neuen Tage

die Angst vor dem was ist, was wird,

das Leben wird zur grauen Klage

zuvieles ist, was Trauer schürt.

Man stellt sich viele neue Fragen

doch wirklich ist‘s nur eine

„Wieso“ möcht man gen Himmel klagen

doch Antwort gibt es keine.

Anstatt zu stehen fällt man trauernd,

das Leben scheint zu schwer

man hasst es, ängstlich kauernd

und wünscht sich man wär leer.

Denn ohne diese Schmerzmomente

ohne all das Leben in dir selbst

gäb es nicht die Argumente,

die du aus Gründen immer wählst.

3 Antworten zu “Mein Fantasy-Lesestoff: „Welten wie diese“

    • Da muss ich ordentlich weiter schreiben – habe damit aufgehört, weil es für mich etwas schwer ist, wenn keiner meine Geschichten lesen kann. Ich schreib sie ja für Leser 🙂 Aber so schön, dass es einigermaßen gefällt! Ich hoffe, es geht bald weiter – lustig, dass man einen japanischen Durchschlag merkt. Ich kann’s mir halt doch nicht verkneifen 😉

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