Ich und mein Buch

Sommerschatten, Teil 1

„Ich hatte immer gedacht, dass das Leben kurz sei. Und jetzt weiß ich, dass ich über 5000 Jahre alt bin.

Ich hatte nicht an soetwas wie Liebe und Verliebtheit geglaubt. Und jetzt flattert mein Herz ungebändigt für zwei Menschen.

Ich hatte gedacht, dass jede Seele gleich sei. Und jetzt erfahre ich, dass ich einen Seelen-Wärter habe, der mich vor meiner bösen Seelenseite beschützen soll.

Ich hatte immer gedacht, dass ich niemanden verletzen könnte. Und jetzt weiß ich, dass ich den zwei einzigen Menschen, die mir jemals etwas bedeutet hatten, unwiderruflich das Herz zerschmettert habe.

Wer bin ich?“

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Teil 1

„Und jeder Mensch besitzt eine Seele, so hat er auch einen Seelen-Wärter. Geht er sorgsam mit der Kraft des Lebens um, so lebt er glücklich und ist sich seines Wärters unbewusst. Doch wehe dem, der seine Seele mit Füßen tritt und dem Schatten Zutritt verschafft; möge er nur seinem Seelen-Wärter begegnen und der Letzten Bastion entfliehen. Bis zu dem Tage, an dem zwei Gebrochene die Siegel zerstören und Tränen aus Blut vergießen.“

Diese Worte hatte Alansair nur einmal gelesen, hatte nur die Hälfte verstanden. Seine grünen Augen hatten wütend aufgeblitzt als er auch hier keine Antwort auf sein Schicksal gefunden hatte, gebunden an die unverständliche Last, die er auf seinen Schultern trug seitdem sein Clan, seine Familie, ausgelöscht worden und seine Erinnerungen einem schwarzen Fleck gewichen waren. Er blickte in den strahlend blauen Himmel, ließ den Sommerwind in seinem dunklem Haar spielen, an seinen Umhang zerren und atmete die warme Luft ein. Eine Seele musste zur Vernunft gebracht werden, aber es war nur eine normale Seele, die schon etwas länger in der Welt der Menschen unterwegs war. Nichts besonderes. Antworten auf seine Fragen zu finden war das einzig wichtige, daher seufzte er genervt, aber gab sich dem Schicksal hin. Er war ein Seelen-Wärter und hatte eine Aufgabe in der Welt der Menschen.

Teil 2

Ich saß in der Sonne auf dem Salbei-Hügel und konnte das Meer in der Ferne glitzern sehen. Barla, die Hauptstadt der Seelen-Welt, lag in einer Meeresbucht, auf der einen Seite war das Meer und auf der anderen Seite lag der riesige Wald. Trotzdem konnte man sagen, dass Barla in einer Art Senke lag und die Hügel rundherum mit den rauschenden Wäldern und verschlungenen Wegen schützen es vor imaginären Feinden, die es wohl kaum geben wird.

Ich legte das Buch beiseite und ließ meinen Blick über das funkelnde Wasser in der Ferne gleiten, hinter mir das sachte Rauschen der uralten Bäume und das entfernte Treiben der Stadt. Es war Vormittag, ich hatte mich aus dem Haus geschlichen, obwohl die Bezeichnung „Haus“ wohl etwas untertrieben war.

Seufzend lehnte ich mich im weichen Gras zurück und versank in den Anblick der zarten Wolken am Himmel.

Wie lange war ich schon hier? Sicherlich einige Wochen, ich hatte nicht gezählt. Am An- fang wusste ich nicht ob Tag oder Nacht, da ich unregelmäßig und meistens viel zu viel schlief, geplagt von kräfteraubenden Träumen und Erinnerungen. Und danach war ich, als ich endlich einmal kräftig genug gewesen war, um die Umwelt zu erobern, einfach viel zu beschäftigt gewesen, um Tage zu zählen. Barla war eine Stadt voller Schönheit, voller verwinkelter Straßen, hellen Gebäuden und vielen Sammelplätzen. Die Häuser waren unterschiedlich gebaut und doch wiesen sie alle eine unverkennbare Architektur auf, die für die Stadt stand. Die Menschen die ich bisher kennen gelernt hatte, unzählig viele, waren immer freundlich und entgegenkommend gewesen. Aber ich spürte, dass sie mich verhalten anblickten und ich des öfteren Gesprächsthema war. Allein die Tatsache, dass ich im Haus der Wärter lebte, war für viele ein Grund mehr mich höflich aber zurückhaltend zu behandeln. Aber ich konnte es ihnen nicht verübeln. Das „Haus der Wärter“ bestand aus mehreren Trakten und war in die Hügel hineingebaut worden, sodass weitere Einrichtungen direkt im Berg gebaut werden konnten. Die Ausmaße waren gigantisch, so verband ein Gang alle Trakte miteinander und fand in der Mitte, im Richt-Saal einen zentralen Punkt. Wenn ich unten in der Stadt war, dann konnte man die kleine Stadt der verschiedenen Trakte im Licht der Sonne leuchten sehen. Aber obwohl sie so unzählige waren und alles andere als klein, fielen einen diese erst später auf, da sie beinahe mit dem Berg und der Natur verflossen. Außerdem zog der Oberste Saal alle Aufmerksamkeit auf sich und das war Absicht. Hoch oben auf dem Berg thronte er und hatte das Aussehen eines Tempels mit einem gigantischen weißen Diebeldach und Holzbalken, dicker, als dass 2 Männer sie umfassen könnten. Dort hin ging niemand, der keine Probleme hatte. Ich hatte mir sagen lassen, dass dort die Obersten Seelen-Wärter hausten und nur Urteile sprachen, die Rolle der Richter einnahmen. Deswegen wollte niemand dort hoch, ein Besuch im Obersten Saal konnte mitunter eine Besuch ohne Wiederkehr bedeuten. So mahnte dieser Tempel alle Bewohner und Besucher von Barla sich an die Regeln zu halten.

Eine kleine Hummel brummte an mir vorbei und stürzte sich in die Kelche der Salbeiblüten, die um mich herum blühten und im kühlen Wind schaukelten.
Ciam war immer nett gewesen und er war es noch immer, nur störte es mich zusehends wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Vor allem da alle hofften, dass meine Erinnerungen endlich einmal vollends zurück kämen. Und das war eine Sache, die mich sehr störte. In meinem Kopf purzelten Gedanken und Erinnerungen, Gefühle und Momente umher, ließen mich nicht schlafen und versetzten mich ständig in Alarmbereitschaft. Ich hatte genug Erinnerungen, dachte ich und doch kamen Tag für Tag neue hinzu. Aber das seltsame daran war, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass es tatsächlich meine waren. Es ist, als wären es Erinnerungen und Empfindungen von jemand anderen, den ich betrachte. Es waren schöne, traurige, lustige, schmerzvolle, helle und dunkle Erinnerungen dabei. Und trotzdem wusste ich nicht wer ich war, woher ich kam und was ich die letzten Jahrhunderte gemacht hatte. Von den letzten Jahrtausenden ganz zu schweigen. Das einzige Mal, als ich dachte meine Gedanken zerreissen mir das Herz und schlagen mich nieder, war als ich den Gefangenen mit den grünen Augen getroffen hatte und er mich so verzweifelt umarmt hatte.

Ob er noch immer im Kerker war?

Aber eigentlich war es mir egal, nachdem was Ciam mir erzählt hatte, war er kurz davor gewesen mich umzubringen, also weshalb sollte ich mit dem Feind fraternisieren. Und dennoch spürte ich ein Ziehen in der Brust, das immer wieder hochkam, manchmal in der Stadt, oft in den Wäldern bei meinen Erkundungstouren oder wenn ich unter den Bewohnern von Barla war.

Ich lernte mich selber immer mehr kennen, aber hatte das Gefühl ein leeres Blatt Papier zu sein, anstatt eines dicken Wälzers. Ich holte tief Luft und stieß sie langsam aus, das Gewicht meines Buchs auf meinem Bauch gab mir ein sicheres Gefühl – wie ein Briefbeschwerer.

War vorher alles besser gewesen oder bin ich jetzt besser dran? Ich konnte Ciam nicht einmal böse sein, dass er mich von meinem irdischen Körper getrennt hatte und ich somit frei war, meine wahren Kräfte zu sammeln und wieder zu mir zu kommen. Er hatte auch gemeint, dass die Zeit nach dem Ritual eine schwere Zeit sein würde und ich konnte es ihm nicht glauben, bis ich die Wahrheit seiner Worte am eigenen Körper zu spüren begann. Die ersten Wochen lang hatte ich das Gefühl gehabt, dass in meinem Kopf an die zwanzig Personen waren und sich lauthals mit mir unterhielten, wenn ich nicht gerade an einer Flut von Erinnerungen zu kämpfen hatte.

Langsam ließ es nach, ich konnte wieder klare Gedanken fassen und die Nächte einiger- maßen ruhig verbringen. Und genau deswegen flüchtete ich in der Früh hierher, um et- was Ruhe zu bekommen und mich zu sortieren. Schmunzelnd musste ich mir eingestehen, dass es auch deswegen war, weil ich all den Personen um mich herum, die mich als etwas Besonderes sahen, entfliehen wollte.

Ich schloss die Augen und genoss lächelnd die frische, von Meer und Wald getränkte Luft. Der Wind fuhr in die Bäume und ein Rauschen wie das Meer erfüllte die morgendliche Stille, bis eine leise, klare Stimme sich dem Rauschen anschloss. Erst merkte ich nicht, dass sich jemand dazwischen geschlichen hatte, doch dann änderte die Stimme die Art und Weise, wie sie sang und ich wurde in eine Decke des Glücks eingewickelt. Die Melodie hüllte mich ein und ich hatte das Gefühl, dass ich sogar mit geschlossenen Augen alles um mich herum sehen konnte.

Wer sang das?
Gewaltsam riss ich meine Augen auf, setzte mich hin und lauschte nach der Quelle. Ich streifte mein Kleid zurecht und schlüpfte mit meiner Hose in die kurzen braunen Stiefel und ging zum Wald zurück, folgte der Stimme. Aufmerksam ging ich den schattigen Waldweg entlang, folgte einer Abzweigung nach rechts und befand mich kurz darauf auf einer kleinen Wiesenfläche, die ebenfalls zum Meer zeigte. Ich hätte direkt auf meiner Seite der Wiese entlang gehen können, um hierher zu kommen.
Im Gras lag jemand und sang leise vor sich hin. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, ging ich auf ihn zu und setzte mich neben ihn, blickte auf das Meer.
Als das Summen aufhörte drehte ich mich zu ihm um und mir stockte der Atem.

Wer auch immer er war, er sah umwerfend aus.

Sein hellbraunes Haar leuchtete im morgendlichen Licht und umrahmte sein perfekt geformtes Gesicht. Seine Haut schimmerte seicht, seine ausgeprägte Wangenknochen verliehen ihm etwas Edles und ich widerstand dem Drang mit meinen Fingern über seine Wange zu streichen. Er lag entspannt in der Sonne, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und in ein schwarzes, kurzärmliges Oberteil gekleidet, was seinen wohlgeformten Oberkörper unterstrich. Er wirkte so ruhig und friedlich, dass ich das Bedürfnis hatte ihn zu berühren, um zu sehen, ob er noch am Leben war. Seine Lippen verzogen sich und er lachte melodisch.

„Na, gefällt dir was du siehst?“
Ich lief rot an und meine Wangen fingen zu glühen an. Schnell wandte ich den Blick in Richtung Landschaft und gab ein „Tsss“ von mir, in der Hoffnung, dass ich gut genug schauspielern konnte. Sein Lachen war Beweis dafür, dass er nicht darauf reingefallen war und er wusste, dass er mich auf frischer Tat ertappt hatte.
„Keine Sorge, ich bin es gewohnt, dass ich bewundert und begehrt werde.“
Arrogant.
„Aber ich hätte nicht gedacht, dass mir jemand bis hier oben hin folgt. Du musst ziemlich verliebt in mich sein, sonst hättest du den morgendlichen Weg nicht auf dich genommen, was? Vielleicht sollte ich deine Anstrengungen etwas belohnen.“
Ich lachte hysterisch auf innerlich. Hätte er nicht einfach die Klappe halten können, da- mit ich mich meiner Vorstellung hingeben konnte? Jetzt wirkte er nicht mehr attraktiv, sondern nur so hübsch wie eine tote Fliege.
Schneller als ich reagieren konnte, hatte er mein Handgelenk gepackt und mich zu ihm hingezogen. Da lag ich nun also, an die Brust eines vermeintlichen Weiberhelden geklammert und wusste nicht ob ich lachen oder weinen sollte.
„Normalerweise lasse ich niemanden so nah an mich ran…“ sagte er an meinem Ohr und seine melodische Stimme schwang in der Luft.
Ja, natürlich! Dachte ich hysterisch.

Normalerweise schmeißen sich die Mädels von selbst an deine Brust und hyperventilieren!
Er griff mit der anderen Hand zu mir herüber und ich war kurz vorm Durchdrehen bei der Vorstellung, dass er mit dieser Hand irgendwo rumfummeln wollte, doch er legte sie nur auf meinen Kopf und drückte diesen auf seine Brust.
„Hörst du das?“ fragte er murmelnd.
Ja! Das sind wohl kleine Gnome in deiner Brust, die rhythmisch auf Trommeln Samba spielen, aber sicherlich kein Herz!
Mir entwischte ein leicht debiles Lachen.

„Du bist nervös.“ Lachte der Schönling. „Soll ich dir etwas singen?“
Ich wollte mich gegen seinen Klammergriff wehren, als ein zartes Summen einsetzte und jede Faser meines Körpers erfüllte. Dann fing er an zu singen und die Welt verschwamm vor meinen Augen.

Ich verstand die Worte, die sich langsam zu einer Geschichte verbanden und eine Welt jenseits von dieser bauten. Jedoch konnte ich der melancholischen gesungenen Geschichte nicht folgen.

Wie damals bei dem Gefangenen überwältigten mich Gefühle und ich roch, spürte und hörte meine Vergangenheit. Erinnerungen bohrten sich in meine Brust und eine tiefe Traurigkeit erfasste mich, aber auch gleichzeitig rasende Wut.

„Tu es nicht, hörst du? Lass es sein!“ schrie eine Stimme zwischen Feuer und Flammen, Toten und Sterbenden.
„Ich muss es tun, ich muss einfach!“ schrie ich zurück und wandte mich in einem festen Griff.

„Er ist dem Untergang geweiht, so seh es doch ein! Wir können ihm nicht mehr helfen! Und wenn wir nicht bald etwas gegen ihn unternehmen, wird er uns alle auslöschen! Ver- steh das doch!“
Ich riss mich gewaltsam los und funkelte voller Hass die Person an, dessen blonder Pferdeschwanz in den Funken tanzten.

„Ich kann ihm helfen. Nur ich.“ Sagte ich kalt. „Und ich werde ihn retten und lasse mir von niemanden sagen, was ich zu tun habe.“
„Aber…“
„Wenn er stirbt, dann kann ich gleich mit ihm gehen. Ich fühle mich ihm so sehr verbunden, wie niemanden sonst gegenüber. Und dass er solch ein Monster ist, kann niemals sein Wille gewesen sein!“ Ich drehte mich um und ging durch die brennende Landschaft auf ein lärmendes Schlachtfeld zu, von dem Schreie zu hören waren.

„Nein, bleib da! Sie werden dich töten, wenn du das tust!“

Eine Stimme holte mich in die Gegenwart zurück.
„Warum weinst du denn?“ fragte diese mich. „Ist es wegen dem Lied? Hat es dich so sehr berührt, dass du wegen der Geschichte weinen musstest?“
Der junge Mann rappelte sich auf, drehte mich auf den Boden und sich über mich und stützte sich seitlich bei mir ab.
Schneller als ich „Halt“ sagen konnte, war er schon über mir und hatte seine Lippen auf meine gedrückt. Seine Lippen waren zart und angenehm, er schmeckte vertraut. Als er seine Lippen von meinen löste, fiel mir auf, dass ich die Augen geschlossen hatte. Ich öffnete sie und starrte in zwei dunkelbraune Augen, die mit tiefblauen Strähnen durch- zogen waren.
Wunderschön!

Der Mann sah mich noch immer aus seinen fesselnden Augen an und man konnte sehen, dass er mit Panik seinerseits zu kämpfen hatte.
„Wer…“ fing er an und stand schneller auf seinen Beinen, als ich dachte, dass es möglich wäre.
Ich stand ebenfalls auf, strich meine Kleidung glatt und funkelte ihn an.
„Das wär‘ mal eine Frage, die ich an dich stellen könnte. Überfällst du ständig einfach so irgendwelche Frauen und redest sentimentales Weiberhelden-Gewäsch, um sie von dir zu überzeugen?“
„Wer…“ setzte er noch einmal an.
Ich stöhnte. Er war nicht nur arrogant und eingebildet, sondern konnte offenbar nur Texte rezitieren, aber nicht eigenständig denken. Wahrscheinlich war „wer“ sein einziges Wort, das er spontan zustande brachte.
„Ich“ und ich deutete auf mich. „Ich bin Amelia. Und wer bist du?“
„Amelia?“ keuchte er.
„Ja, Amelia. Ich bin momentan zu Besuch bei Ciam. Und du…?“
Er wich ein paar Schritte zurück.
„Hey, was ist denn?“ fragte ich erstaunt über sein Verhalten mir gegenüber. Er sah mich an, als wäre ich die Pest persönlich. Er ballte die Hände zu Fäusten, schluckte und sein Blick wandelte sich von entsetzt zu wütend.
„Es tut mir leid was passiert ist.“ Meinte er dann gefasst. „Ich dachte du wärst jemand anderes. Ich entschuldige mich für mein Verhalten. Ich werde jetzt wieder gehen, die Arbeit ruft.“
Damit drehte er sich um und schritt in den Wald hinein.

Sprachlos stand ich da und sah ihn durch das Gras gehen, auf den schattigen Wald zu. „Warte!“ rief ich, wollte ihm hinterherlaufen und ihn zur Rede stellen. Schließlich hat er mich geküsst und nicht ich ihn. Außerdem wollte ich wissen, was er gesungen hatte.

„Du kannst nicht einfach abhauen, du…“ ich verstummte taumelnd und eine Reihe an intensiven Erinnerungen flammte vor meinen Augen auf, stießen mich für ein paar Sekunden in meine Vergangenheit hinab.
Ein paar schwarz-blauer Augen – eine helfende Hand beim und eine melodische Stimme – eine beschützende Umarmung – ein Schlaflied unter freiem Himmel.

Ich öffnete die Augen und sah eine Salbeiblume im Wind schaukeln. Der Duft des Grases holte mich in die Wirklichkeit zurück und ich setzte mich auf.
Was war das gewesen? Ich kannte ihn von früher?

Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es wirklich ich war, die ihn gekannt hatte.

Warum… warum war er nicht dageblieben und hatte es mir erklärt.
Wieder einmal fühlte ich mich allein gelassen, mit all meinen Fragen stand ich schluss- endlich doch alleine da, da mit mir niemand etwas zu tun haben wollte. Aus Angst oder aus Ehrfurcht.
„Zeit zu gehen.“ murmelte ich und machte mich auf den Weg zum Haus der Wärter.

Ich nahm den Weg nach Hause kaum war, da ich so sehr in Gedanken versunken war und versuchte heraus zu finden, warum sich dieser bildhübsche aber seltsame Mann so unerklärlich verhalten hatte.
Vogelgezwitscher folgte mir auf dem Weg, der von den Schatten der Bäumen hell und dunkel gefleckt war. Die Geschäftigkeit der Stadt Barla war immer mehr zu hören je näher ich ihr kam und der Abstieg geschlungener und seitlich versetzter wurde. In meiner rechten Hand hielt ich einen Blumenstrauß, den ich am Anfang gepflückt hatte – entweder für mich oder für Ciam. Ich war mir noch nicht so ganz sicher, aber ich fühlte mich wohler, wenn ich eine Ausrede vorlegen konnte. Anstatt nichts zu tun, war ich zum Blumenpflücken auf den westlichen Hügel gestiegen. Das klang vernünftiger als die Tatsache, dass ich vor all dem Trubel fliehen und mit meinen Gedanken allein sein wollte.

Ich sah auf, da ich meinen Namen sagen hörte und merkte, dass ich vor dem West-Tor angekommen war und die Wachen mir Blicke zuwarfen und mit einander redeten. Sicherlich wohl über mich, warum ich hier war und dass ich eine der alten und ehrwürdigen Seelen war. Und aus Versehen einige Jahrhunderte in der Welt der Menschen gelebt hatte.

Ich seufzte auf.

Was dachten sich die Leute dabei? Dass ich sie alle fressen würde oder zu keinen normalen Gefühlsregungen fähig war?
„Guten Morgen!“ die zwei Männer verbeugten sich ruckartig, die Holzstäbe horizontal haltend und ließen mich passieren.

Irgendwann werde ich wohl auch galant lächelnd winken müssen, um dem Verhalten der Bewohner von Barla gerecht zu werden.
Es waren kaum zwei Stunden vergangen, als ich hier durchgegangen war und doch könnte der Unterschied nicht größer sein. Die Straßen waren erfüllt von Betriebsamkeit, jeder war unterwegs. Sei es zur Arbeit, mit Waren zum Markt oder mit dem Einkauf auf dem Weg nach Hause. Die Kinder rannten die Straße entlang, lachend, auf dem Weg zum Institut und Lehrlinge spazierten sich unterhaltend oder lesend zu ihren Häusern. Von überall her roch es nach Geschäftigkeit und je näher ich dem südlichen Marktplatz kam, desto intensiver merkte ich meinen Hunger. Es roch nach Eintopf, nach frischen Kräutern, nach Reissuppe, nach gebackenem Brot und nach süßen Früchten und Nascherein. Am Markt feilten die Käufer mit den Verkäufern und an jeder Ecke saßen Gruppen von Menschen, die sich das Frühstück beim Stand schmecken ließen und sich in etliche Tischspiele vertieften, von Tee begleitet.

Wir gerne wollte ich hier bleiben, einkaufen und mich zu den Menschen gesellen. Ich hatte keine Ahnung wie das wirkliche Essen hier schmeckte, kannte die Währung nicht und wusste nicht, was hier in der Nähe tatsächlich angebaut wurde. Man hatte mir zwar alles erklärt, aber tatsächlich wusste ich nichts. Dass Barla nach dem Krieg der Räumer wieder komplett aufgebaut wurde wusste ich, aber das lag ein paar Jahrtausende zurück und hatte nichts mit dem jetzigen Leben in der Stadt zu tun.

Ich eilte schnell weiter, denn ich wollte weder angegafft noch erwischt werden. Ciam war nämlich nicht so liebevoll, wie er am Anfang getan hatte. Er wusste, dass ich es liebte aus dem Haus zu schlüpfen, aber sollte ich mich auf dem Markt oder in der Stadt herumtreiben, dann wäre er vorbereitet. In der ganzen Stadt gab es seine Wachen, die durch goldene Gürtel gekennzeichnet waren und mich ohne Wenn und Aber einpacken und ihm vor die Füße werfen würden.

Ich schauderte bei dem Gedanken, von der Wache erwischt zu werden und Ciams Tobsuchtsanfall erdulden zu müssen. Als ob ich hier von einem Verkäufer mit Kartoffeln zu Tode geschlagen werden könnte.

Er sorgte sich einfach um einiges zu viel u mich, ich hatte mir schlussendlich doch ein anderes Leben vorgestellt, als ständig von seinen Wachhunden beäugt und ohne Freunde.

Ich raffte meinen Rock und eilte den Weg nach oben hoch. Zum Glück war Ciam sicherlich schon im Essensraum und ich musste nicht ganz hoch zu meinem Zimmer. Der Ausblick war zwar umwerfend, aber mit Zeitdruck würde es zu lange dauern.
Ich eilte zu der Terrasse und lief die Stufen hoch, öffnete die Glastür und huschte hinein.

„Zu spät.“

Ich schreckte zusammen und fuhr herum. Ich verzog das Gesicht, denn Ciam saß am Tisch und frühstückte. Das war kein gutes Zeichen.
„M…Morgen Ciam.“ sagte ich vorsichtig.
Ciam löffelte seine Suppe und sah mich mit funkelnden Augen an.

„Blumen?“ fragte ich zögerlich mit einem schiefen Grinsen.

Ich hoffte nur, dass er heute nicht so wütend werden würde wie letzte Woche. Da hatte ich gedacht, dass er mich packt und bestialisch lachend den Berg hinunter schleudert. Ich schüttelte mich. Das war tatsächlich furchteinflößend gewesen.

Ciam legte den Löffel neben seine Schale und verschränkte die Hände vor seinem Ge- sicht.
„Darf ich denn diesmal erfahren“ fing er an und ich merkte an seiner Art und Weise zu sprechen, dass wütend war „wo du heute warst und warum du dich wieder einmal allen Regeln zuwider verhalten musstest?“

Ich zuckte mit den Schultern und blickte auf meinen Salbeistrauß runter. „Am Salbeihügel…“
„Wie bitte?“ fragte Ciam nach.

„Ich war am Salbeihügel, der westliche Hügel.“ Ich deutete mit meinem Blumenstrauß vage nach draußen und mied es ihn anzusehen. Es würde sowieso immer im selben Disput enden, ob ich die Wahrheit sagte oder nicht.
„Soso.“ Der Stuhl wurde über den Boden geschoben und Ciam stand auf, stellte sich ne- ben mich hin und sah auf die große Terrasse hinaus.

„Du weißt, was ich dazu sage, nicht?“
„Ja…“
„Du weißt auch, dass die Goldene Wache keine Späßchen mit dir macht, wenn sie dich erwischt?“
„Ja, aber…“
„Und du weißt auch, dass du nicht in der Stadt umher spazieren sollst, weder ist es für dich noch für die anderen gut. Und du tust es trotzdem.“
„Natürlich tu ich es.“ Ich reckte trotzig das Kinn.
„Bitte?“
Ich hob den Kopf und sah Ciam direkt in die Augen.
„Natürlich weiß ich, dass du der Meinung bist, dass mein Verhalten falsch ist. Aber wie soll ich denn verstehen, dass es falsch ist, wenn du mir nicht erklärst weshalb? Ich möchte mich nicht einsperren lassen und ich möchte auch nicht jeden Tag nach den Wünschen von euch leben. Es bringt doch nichts…“
„Sag mir, Amelia, was soll nichts bringen?“ Er kam mir ein Stückchen näher, sein Aus- druck war nicht zu deuten.
„Naja, dass ihr mich behandelt, als wäre ich ein rohes Ei. Keine meiner Erinnerungen sind vollständig zurück gekehrt, alles kommt und geht und nichts bleibt hängen. Ich weiß noch immer nicht wer ich bin, aber immerzu hier zu bleiben und nichts neues sehen zu dürfen halte ich nicht aus. Du möchtest, dass ich wieder ich selber werde? Dann musst du mir ein paar mehr Rechte zusprechen. Ich war doch nur Blumenpflücken!“
Und ich hielt ihm den Strauß unter die Nase, konnte es aber nicht verhindern, dass ich ihn trotzig anblickte.
„Da.“ sagte ich nochmal und steckte ihm den Salbeistrauß ins Gesicht, er griff prustend danach und ich ging an ihm vorbei zum Tisch.
„Amelia!“ rief er.
„Wenn du mich bestrafen willst, dann tu es. Ich werde trotzdem wieder nach draußen gehen, es ist doch mein Zuhause, nicht wahr Ciam? Wieso sollte man mich nicht mö- gen?“ Ich setzte mich an den Tisch und fing an zu essen.
Auf einmal spürte ich eine Hand auf meinen Kopf und zuckte zusammen, verschluckte mich an meiner Suppe und versuchte es zu vermeiden, dass mir das Essen aus der Nase rauskam.
„Keine Sorge.“ lachte Ciam und tätschelte mir den Kopf. „Ich bin auch der Meinung, dass du öfter nach draußen und in die Stadt dürfen solltest. Deswegen nehme ich dich heute auch zu einem öffentlichen Gericht mit, danach können wir in der Stadt essen gehen.“
Er ging gemächlich um den Tisch herum und hatte wieder seinen ständig warmen Blick, als er die Blumen in eine leere Vase auf den Tisch stellte.
„Ich wusste doch, dass du wieder Blumen mit nimmst.“ Sagte er, als er meinen erstaun- ten Blick bemerkte.
„Wir gehen zu einem öffentlichen Gericht?“ fragte ich neugierig, als ich fertig gefrühstückt hatte und mich in meinem Stuhl zurück lehnte. Langsam spürte ich Freude in mir aufsteigen, Ciam hatte tatsächlich offiziell erlaubt, dass ich hingehen konnte wohin ich wollte.
„Ja, diese Gerichte finden alle zwei Wochen statt. Es mag seltsam klingen, diese Gerichte als öffentlich zu bezeichnen, jedoch handeln sie meistens von Kleinigkeiten wie Taschendiebstahl, Verleugnung oder Ehebruch. Die wahren Gerichte finden im Tempel statt, wie du sicherlich weißt.“

„Also sehen wir sozusagen bei der Kundgebung der Strafe zu, die die Täter bekommen?“ Ich fand den Gedanken seltsam befremdlich. Wollte man denn sehen, wie Taschendiebe bestraft werden? Aber Ciam nickte.
„Genau, es ist eine der simpelsten Möglichkeiten Wiederholungstäter zu eliminieren und andere Bewohner von Barla oder auch Besucher von solchen Taten abzubringen.“

Ich blickte auf die Eiswürfel, die in meinem Glas schwammen und wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Es klang seltsam und nicht wirklich fair.
„Ich kann verstehen, wenn es dich verschreckt. Aber die Strafen, die ausgeführt werden, sind nur geringe und in keinster Weise tödliche Strafen. Daher solltest du damit keine Probleme haben. Es ist wie ein großes Fest, sogar Kinder gehen zu diesem öffentlichen Gericht gehen, und die Bewohner von Barla akzeptieren das Gericht als eine Art Unterhaltung.“

Die Eiswürfel klingelten leicht, als ich nach dem Glas griff und einen großen Schluck nahm, um nicht sofort etwas sagen zu müssen.
Etwas in mir war in keinster Weise damit einverstanden, dass eine öffentliche Demütigung und Bestrafung von Menschen als eine Art Jahrmarktsattraktion verkauft wurde. Aber ich wollte mich nicht auf eine weitere Diskussion mit Ciam einlassen und lächelte daher leicht zustimmend.

Ich war trotzdem begeistert.

Noch nie durfte ich die Stadt in aller Ruhe betrachten und mich in aller Ruhe umsehen, die wunderbaren und faszinierenden Bauten betrachten und in kleine Gassen hinein gehen, ohne Angst zu haben von der Goldenen Wache erwischt zu werden. Um ehrlich zu sein, war die Goldene Wache die ganze Zeit um mich herum, aber dieses Mal nicht um wieder zurück ins Haus der Wächter zu bringen, sondern um mir Geleitschutz zu geben.

Ich genoss es Barla in aller Ruhe erkunden zu können. Die hellen Gebäude waren in un- terschiedlichsten Größen und hatten entweder flache Dächer, wenn sie kleiner waren und Diebelbalken, wenn sie größer und höher waren. Auf den Flachdächern wurden wo- hin man nur sah kleine Gärten angepflanzt und mit saftig grünen Bäumen bewaldet. Es gab viele kleine Plätze, die mit Steinen ausgelegt und oft mit hölzernen Parapluies versehen waren. So konnten die Bewohner von Barla draußen sein, in der Gesellschaft und im kühlen Schatten die warme Luft genießen. An sich waren die Häuser sehr einfach gebaut, es gab kaum Verschönerungen oder Verschnörkelungen, aber durch hölzerne Anbauten an die hellen Gebäude bekam die Stadt eine Lebendigkeit und Wärme. Je mehr wir in die Mitte der Stadt kamen, desto größer wurden die Häuser und die Straße. Einmal kamen wir an einer mannshohen Mauer vorbei, die wohl ein riesiges Gut umfasste, da ich nur verschiedene Giebeldächer und die typischen Barla-Ahornbäume sah. In der Gegend um Barla wuchsen diese speziellen Bäume, die mit unglaublich dichten Blättern in großen Ausmaßen gezeichnet waren. Das besondere daran war jedoch die Textur der Blätter, die unglaublich reißfest und doch zart wie ein Stoff waren. Man hatte mir gesagt, dass sie nie die Blätter verlieren sondern sich der Jahreszeit entsprechend nur die Farbe verändere. Im Herbst rot, im Winter weiß, im Frühling rosé und im Sommer grün. Ich freute mich schon heimlich auf die farbigen Blätter und darauf, wie die Stadt dann wohl wirken würde, da der Barla-Ahorn überall in der Stadt zu finden war.
Wir gingen an der Mauer entlang und schritten von Schatten in das Sonnenlicht und wieder in den Schatten der über die Mauer ragenden Bäume.

„Was ist da hinter der Mauer?“ fragte ich einen der Wächter, die schweigend neben mir herschritten.
Kurz sah er mich und seine Kameraden irritiert an, dann antwortete er in knappen Worten: „Hinter den Mauern befinden sich die Ausbildungsstätten für die Seelen-Garde, verehrte Amelia.“

Ich starrte ihn an, als hätte er mir gerade seinen Popel ins Gesicht geschmissen und offensichtlich merkte er das. Panik machte sich bei ihm breit und er blickte gen Boden, die Hand um seinen Wächter-Stab versteifte sich.
„Verzeiht mir, verehrte Amelia. Ich hätte nicht gedankenlos sprechen sollen. Bitte nehmt meine Entschuldigung an.“ Und er verbeugte sich tief, legte den Stab horizontal auf seine Oberschenkel.

Ich winkte hektisch ab.
Was war ich, ein feuerspeiender Drache oder etwa ein lebensbedrohliches Monster, dass er solche Angst vor mir hatte?
„Nein, das ist schon okay! Danke sehr!“ sagte ich schnell, um einer weiteren Entschuldigungs-Tirade zu entgehen. „Ich wusste nicht, dass die Seelen-Garde hier ausgebildet wurde. Aber“ meinte ich und wand mich ihm wieder zu. „Was soll denn dieses… dieses ‚verehrte Amelia‘? Ich bin weder so weise noch so wichtig, dass man mich so nennen sollte!“

„Wir wurden angewiesen euch so zu nennen, verehrte Amelia. Befehle sind Befehle.“ Der Mann verbeugte sich abermals und ich seufzte.
Was Ciam nicht alles für dumme Ideen hatte, um mir zu zeigen, dass ich in keinster Weise einfach nur Amelia, sondern ein Freak ohne Gedächtnis bin.

Wir gingen weiter und kamen zu einem riesigen Gebäude, das auf einem großen mit Bäumen besäten Grundstück stand. Ein Weg führte uns zu dem Haus, das keine Wände hatte, sondern nur aus Balken bestand und in der Mitte ein Artrium aufwies, in das die warme Mittagssonne schien. Die Gäste saßen zwischen de Balken auf Bänken, je weiter wir nach vorne kamen, desto weniger wurden es und normale Holzbänke wurden gegen Sessel ausgetauscht.

Als ich fast im Licht der Sonne stand verbeugten sich die Goldenen Wächtern und stell- ten sich entlang des Gangs auf.
„Hierher Amelia.“ Sagte eine vertraute Stimme und ich sah ein paar Schritte entfernt Ciam mit einem fremden Mann sitzen.

„Hier, dieser Platz ist für dich reserviert.“ Er deutete auf seinen rechten Sessel und winkte gleichzeitig mit der anderen einen der Verkäufer zu sich. Er kaufte ihm ein paar frische Kaki ab und eine kleine Flasche mit süßem Wasser. Ich setzte mich.
„Ich dachte mir, dass du nach dem langen Spaziergang vielleicht Hunger hättest.“ Sagte er und reichte mir die Flasche, während er die orangenen Früchte zwischen uns auf die kleine Bank zwischen den Lehnen stellt.

„Du hast das ‚verehrte Amelia‘ vergessen.“ murmelte ich und drehte mich beleidigt von Ciam weg, der leise lachte.

„Lesley, das ist Amelia. Du kennst sie sicherlich noch.“ sagte Ciam und stellte mich dem fremden Mann vor, der links von Ciam saß.
„Hallo Amelia.“ Sagte Lesley und nickte mir zu, während er sich vorbeugte. Er hatte wie Ciam einen langen und weiten Mantel an, doch seiner war blau. Sein ehemals schwarzes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen und sein linkes Auge fehlte. Eine breite Narbe war anstatt seines Auges zu erkennen und erstreckte sich vom Haaransatz bis zum Wangenknochen. Der grimmige und Ausdruck wurde durch seine pockennarbige Haut noch unterstützt und ich spürte leichtes Unbehagen.

Lesley musterte mich noch ein paar Augenblicke kalt und abschätzend, dann lehnte er sich sichtlich desinteressiert wieder in seinen Sessel zurück und Ciam fing mit ihm zu reden an.
Ich saß da, mit der Unsympathie gegenüber Lesley kämpfend und betrachtete das Treiben in der Sonne. Es kamen immer mehr Menschen und ich war mir sicher, dass mindestens einige Hundert Personen anwesend waren. Tatsächlich waren alle Altersklassen vertreten: ältere Zuschauer, aber auch Jugendliche, ganze Schülerklassen, Kinder mit ihren Müttern und kleine Gruppen, die zusammen gekommen waren. Der Geräuschpegel verwandelte sich in ein Summen, die Verkäufer gingen mit ihren Bauchläden durch die Reihen und versuchten ihre Ware an die Menschen zu bringen. In der Mitte des Atriums wurde auf den steinernen Tisch Dokumente und Unterlagen gestellt, die schweren hölzernen Stühle dahinter wurden mit Kissen belegt und der mit Steinplatten ausgelegte Platz wurde von einigen Helfern gefegt.

„Darf ich?“ fragte mich eine weiche Stimme. Ich blickte erstaunt auf und sah in das Gesicht einer wunderschönen Frau, deren langes Haar ihr Gesicht schmeichelte und im zarten Sommerwind wehte.
Ich nickte sprachlos und die Unbekannte setzte sich hin. Sie trug einen Mantel wie Ciam und Lesley, doch ihrer war vollkommen schwarz und wurde von einem breiten Stoffgürtel in der Mitte zusammengehalten.

„Ach, entschuldige mich bitte.“ lächelte sie. „Wir kennen uns ja noch nicht. Ich bin Shar, fünfte an der Reihe der Weisen Seelen-Wärter. Es freut mich dich kennen zu lernen, Amelia.“
„Freut mich!“ antwortete ich.

Das war also eine der Weisen Seelen-Wärter, die die normalen Seelen-Wärter und die Seelen-Garde ausbildeten und auswählten?

Ich wusste zwar, dass sie nur aus Frauen bestehen und immer zu acht sind, aber ich hatte sie mir etwas… weiser vorgestellt. Alt und bedächtig und nicht so jung und von berauschender Schönheit. So lange Wimpern hatte ich selten gesehen und ihre hellbraunen Augen konnten einem die Sprache verschlagen.

„Was…“ fing ich an, wurde aber von Ciam unterbrochen, der Shars Ankommen bemerkt hatte.
„Aaaah, Shar! Schön dich mal wieder zu sehen! Was machen die angehenden Wärter?“ fragte er höflich, schenkte Shar ein warmes Lächeln.

„Danke der Nachfrage. Es läuft ganz gut, ich denke in drei Jahren werden wir einige zuverlässige Garden-Nachfolger vorweisen können. Hallo Lesley!“
„Hallo Shar.“ Brummte Lesley und wandte sich seinem Getränk zu.
„Und“ fragte mich Shar leise. „Bist du schon gespannt auf das öffentliche Gericht?“

Ich blinzelte sie an und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als eine laute Glocke ertönte und es schlagartig ruhig wurde.

„Die Obersten Seelen-Wärter in ihrer Vertretung durch die erste und zweite Weise der Seelen-Wärter.“ erklang eine Stimme klar.
Zwei Frauen schlurften durch einen der Gänge und kamen in das Atrium, nahmen Platz hinter dem Tisch und winkten 6 jungen Damen, die hinter den Stühlen standen. „Auszubildende für die Weisen.“ flüsterte Shar mir ins Ohr. „Nur die ersten beiden Weisen dürfen dieses Gericht führen, alle anderen Richtungen obliegen den Obersten Seelen-Wärtern.“

Die Auszubildenden gingen aus dem Atrium hinaus und kamen kurz danach mit jeweils einer Person im Schlepptau wieder zurück. Sie stellten sich in einer Reihe auf, den Straftäter auf der linken Seite und die rechte Hand mit einem Stock vor ihm.
„Hiermit wird das Öffentliche Gericht eröffnet. In der nächsten Stunde soll über die Schandtaten der hier anwesenden sechs Personen gerichtet werden . Die Gerechtigkeit und Menschlichkeit der Obersten Seelen-Wärter als einzig wahre Richtlinie.“

Die älteste Frau hatte die Stimme erhoben. Trotz ihres sichtbaren Alters hatte sie noch eine kräftige und überzeugende Stimme und ich verstand, warum sie eine der Weisen war.
„Folgende Taten, die nicht mit den Regeln unserer Gesellschaft übereinstimmen, werden heute hier und jetzt beurteilt und für den Täter eine gerechte und angemessene Strafe gewählt: Diebstahl, Betrug des Eheweibs, Diebstahl, öffentliches Lügen, Warenfälscherei, öffentliche Gewalt.

Jeder Täter hat die Chance sich zu verbal zu verteidigen, doch er hat nicht die Chance die Bestrafung abzuwehren. Unser Wort ist das einzig wahre Wort in diesem Gericht und muss von allen Anwesenden angenommen und vollzogen werden.“
Ich schluckte. Das waren ja gruselige Aussichten, wenn man aus Versehen einmal etwas Falsches sagte und sich hier wieder fand. Keinerlei Gelegenheit sich zu verteidigen und das Gericht von sich zu überzeugen. Was wenn man unschuldig war und hier stand, unfähig etwas dagegen zu tun?

Der erste Gefangene wurde aufgerufen und die Auszubildende trat vor. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und der kleine Mann, der offenbar es kaum ertragen konnte in aller Öffentlichkeit gedemütigt zu werden, ging gehorsam in die Knie. Den Kopf hängend horchte er seiner Tat und seinem Urteil.

„Meister Kah, ihr seid ansässig im nördlichen Viertel der Hauptstadt Barla. Ihr seid 48 Jahre alt, habt eine Frau und zwei Kinder, die beide Schüler am Institut sind und noch keine Laufbahn gewählt haben. Ihr seid Meister der Schneiderskunst und besitzt einen kleinen Laden. Ich nehme diese Daten als korrekt und grundlegend an.“

Der kleine Meister Kah nickte kurz und starrte auf den Boden.
„Die Tat, die Ihr begangen habt, lautet wie folgt: Ihr habt einen Schneidersauftrag einer Dame erhalten, die Mitglied eines Clans ist. Ihr habt den Auftrag angenommen und für die richtige Anpassung der Stilrichtung ihr Vorzeigekleid dabehalten. Dieses Kleid solltet ihr in fünf Ausführungen liefern mit ausgewählten Stoffen. Als die Kundin zu Euch kam, um die abgesprochene Ware abzuholen, bemerkte sie, dass auf dem Originalkleid die eingenähten Rubinsteine fehlten. Im Angesicht der Situation kann es nur zu folgender Schlussfolgerung kommen: Als niederer Bewohner von Barla habt ihr euch eurer Hab- sucht hingegeben und die Rubinsteine aus dem Kleid entfernt, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Das hätte euch eine großen Barbetrag eingebracht, der euch und eure Familie für lange Zeit ernähren können. Eine Statuserhöhung wäre dadurch ebenfalls möglich gewesen.“

Der kleine Mann schwieg, aber ich merkte wie er immer kleiner wurde.
„Meister Kah, bestätigt ihr den Verlauf eurer Straftat und bekennt euch schuldig, der hochrangigen Dame ihre wertvolle Kleidverzierung aus Habsucht gestohlen zu haben?“ Ein widersträubendes Nicken und ein Raunen ging durch die Reihen.
„So hört die Strafe, die eure Tat verdient. Euch wird der Status des Meisters aberkannt und eure Kinder werden des Instituts verwiesen um in die handwerkliche Lehre zu gehen. Desweiteren werdet ihr für den Schaden finanziell mit einem monatlichen Teil aufkommen, bis er ganz getilgt ist. Für euer schandhaftes Verhalten erhaltet ihr hier und jetzt 10 Hiebe mit dem Flach-Stock.“
Die Besucher wurden lauter, redeten hektisch miteinander, buhten oder jubelten. Ich hingegen wusste nicht was ich sagen sollte und war milde gesagt entsetzt. Der Mann fing lautlos zu schluchzen an und hob zitternd seine Hände hinter seinen Kopf, während ein Mann mit einem langen aber flachen Stock in die Sonne trat und auf ihn zu ging. Er stellte sich seitlich zu Meister Kah hin, dem die Tränen über die Wangen liefen.
Die Schläge peitschten durch das Atrium und durch die Besucherbänke, manche zählten laut mit, andere hielten ihren Kindern die Augen zu und andere wiederum blickten entsetzt auf das Schauspiel.
Als die zehn Schläge vorbei waren fiel der Mann vornüber auf seine Hände. Schnell kamen zwei Auszubildende und führten ihn stolpernd aus der Sonne, weg von den Besuchern und weg von dem Gericht.
„Und das soll jetzt so weiter gehen?“ fragte ich mich sprachlos, nicht merkend, dass Shar mich gehört hatte.
„Ja. Hoffentlich gibt es heute keine schlimme Strafe, denn dann würdest du verstehen, wie brutal die Welt wirklich ist.“ sagte Shar mit einem düsteren Gesichtsausdruck.
„Noch schlimmer?“

Und Ciam hatte gesagt, dass dieses Gericht nicht so schlimm wäre. Das kam davon, wenn man einem Schwertkämpfer, der einen ganzen Clan anführte, Glauben schenkte.
Ich liess meinen Blick über die Gefangenen schweifen und versuchte rauszubekommen, wer von ihnen denn etwas gar so schlimmes getan haben könnte. Alle schienen, als wären sie einfache Bürger, die nicht mit bösartigen Absichten gehandelt hatten… Mein Herz setzte einen Moment lang aus, als ich in ein paar tiefblauer Augen sah.
Er war es! Derjenige von heute Morgen!
Rasch senkte der Mann seinen Blick und sein hellbraunes Haar fiel ihm ins Gesicht. Er war hier als einer der Gefangenen, als ein Straftäter. Doch warum?
Den ersten Gedanken – dass er eine verheiratete Frau verführt hatte – wischte ich beseite. Nein, es musste etwas anderes sein, so entgegen aller Regeln schätzte ich ihn nicht ein.
„Kennst du ihn?“ fragte mich Shar, die meine Aufregung mitbekommen hatte. Ich nickte mit dem Kopf und schüttelte ihn gleichzeitig.
Kannte ich ihn? Ja, aus eine paar bescheuerten Erinnerungen, die mir in der Sonne durch den Kopf gingen. Aber richtig kennen tat ich ihn nicht.
Während ich da saß und versuchte zu verstehen, warum sich in mir eine Unruhe breit machte und ich Angst um diesen Mann hatte, wurde eben dieser vorgeführt und auf die Knie geordert.
„Gardist Kyl, ihr seid ansässig im westlichen Viertel der Hauptstad Barla. Ihr habt keine Frau, keine Kinder und keine Familie. Ihr seid Mitglied der Seelen-Garde letzter Ordnung des Bujutsu-Clans und wurdet von den Weisen ausgebildet. Ich nehme diese Daten als korrekt und grundlegend an.“
Auch er nickte schweigend, aber blickte in das Publikum, mied meinen Blick. Verzweifelt, was jetzt geschehen würde, knetete ich meine Hände und wünschte, ich wüsste wer er war.

„Gardist Kyl, wir haben Beweise, dass ihr euch heute früh am westlichen Tor eingefun- den habt um die Stadt nach einem Spaziergang wieder zu betreten. Aus unerklärlichen Gründen habt ihr bei der Begrüßung der West-Wachen mit einem Gewaltausbruch rea- giert und beide Wachen bewusstlos geschlagen. Dabei habt ihr keinen Nutzen eurer Waffen gemacht, sondern nur körperliche Gewalt angewandt. Habt ihr dazu etwas zu sagen, Gardist Kyl?“

Kyl blickte gelassen im Publikum umher und sagte mit lauter Stimme, die mein Herz flattern ließ: „Nein, öffentliches Gericht. Das alles entspricht der Wahrheit.“
Diesmal dauerte das Raunen in den Besucherreihen länger an.
„Nun, dann hört eure Strafe: Eure Stellung als Gardist wird zeitlich begrenzt aufgehoben. Bis auf weiteres seid ihr einfacher Bürger der Stadt und habt in der Heilanstalt auszuhelfen. Desweiteren setzen wir die Höchststrafe bei der körperlichen Bestrafung: So wie Ihr die Wachen bewusstlos geschlagen habt, werdet ihr bis zur eurer Bewusstlosigkeit mit dem Stock geschlagen.“

„Nein!“ ich holte entsetzt Luft und schlug die Hände vor den Mund. Absolute Verzweiflung und Wut über diese Ungerechtigkeit, über diese Unmenschlichkeit ihm das an zutun trieben mir die Tränen in die Augen.

Die Auszubildende ging auf die Seite und machte Platz für den Schläger, der diesmal einen schwarzen Stock dabei hatte, der um einiges stabiler aussah als der Flachstock.

Kyl richtete sich auf und seine Augen richteten sich auf mich, bohrten sich tief in mein Herz als er die Arme hinter seinem Kopf verschränkte. Fast so, wie er heute Morgen im Gras gelegen hatte.
Eine Träne lief mir die Wange hinunter und ich musste mich zusammenreißen, um nicht einfach aufzustehen, zu ihm hinzulaufen und den Schläger wegzuschieben.

Ein zartes Lächeln stahl sich auf Kyls Lippen als er mich mit seinem unergründlichen Au- gen ansah.
„Alles wird gut“ hörte ich den Wind leise an mein Ohr tragen und ich die warme Melodie seiner Stimme erfüllte mein Herz.

Fortsetzung folgt

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Eine Antwort zu “Ich und mein Buch

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